Sergei Iwanowitsch Tanejew (1856-1915):
Die Oresteia / The Oresteia / L'Orestie
Entstehungszeit: | 1887-94 |
Uraufführung: | 29. Oktober 1895 in St. Petersburg |
Besetzung: | Soli, Chor und Orchester |
Erstdruck: | Leipzig: Belaieff, 1894 |
Verlag: | Chestnut Hill, MA: Elibron Classics, 200x Moskau: Muzyka, 1970 |
Bemerkung: | Tanejews Trilogie lehnt sich an die Vorlage des antiken Dramatikers Aischylos an und spannt einen gewaltigen Bogen von der Heimkehr Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg bis zur Entsühnung des Muttermörders Orest durch den Schiedsspruch der Göttin Pallas Athene höchstpersönlich. Es ist Tanejews einzige Oper, er wendet sich dabei vom regionalen Opernschaffen ab und erfüllt globale Ansprüche. Nach Tschaikowskis Opern ist es das Werk, welches der russischen Romantik den krönenden Abschluss gibt. Das umfangreiche Handlungsgeschehen bekommt der Librettist gut in den Griff. Die Gesangstimmen dominieren und die Chöre erreichen teilweise mussorgskische Ausmaße. Die einzelnen Teile der Trilogie fügen sich harmonisch zum Ganzen und halten den aufmerksamen Zuhörer in ihrem Bann. In den 1970er Jahren gab es eine bedeutende Inszenierung an der belorussischen Oper in Minsk unter der Dirigentin Tatiana Kolomijzewa in erstklassiger hauseigener stimmlicher Besetzung. Die Bänder hat die DGG 1979 auf LP überspielt. |
Art: | Musikalische Trilogie nach Aischylos |
Libretto: | A. Wenckstern |
Sprache: | russisch |
Ort: | Griechenland |
Zeit: | in der Antike |
ERSTER TEIL: AGAMEMNON
Erstes Bild
1
Die Übermittlung wichtiger Nachrichten erfolgte im antiken Griechenland durch Brandsignale, die sich wie ein Lauffeuer von Höhenzug zu Höhenzug fortpflanzten. Dem Wächter auf den Zinnen des königlichen Palastes von Argos macht seine Aufgabe keinen Spaß, denn er hat immerzu in die Richtung zu schauen, in der Troja liegt. Das Signal, dass der Krieg beendet ist und die Männer an den heimatlichen Herd zurückkehren dürfen, lässt auf sich warten. Die Ursache allen Übels ist Helena, die Gattin des Königs von Sparta. Man erinnere sich: Sie wurde von dem kleinasiatischen Prinzen Paris geraubt, und bösartige Historienforscher berichten, dass die Schönheit Helenas nicht nur dem Räuber selbst, sondern allen anderen Söhnen des Priamos ebenfalls gefiel. Die Könige und Heroen des griechischen Mutterlandes und seiner Inseln verbündeten sich unter der Führung Agamemnons, um die unerhörte Schmach des Bruders zu rächen, und daraus entstand der Trojanische Krieg. Als Meisterwerk der Kriegsbaukunst hat sich das trojanische Pferd erwiesen, denn in seinem hölzernen Bauch hatten sich die griechischen Angreifer versteckt gehalten, um nach Einzug in die Stadt die Brandfackel zu schleudern. Der Bühnenwirksamkeit wegen und auch, um der Intelligenz der Belagerer ein Denkmal zu setzen, läuft das Pferd auf Rädern, kommt somit als Vorbild für das Schaukelpferd in den Kinderstuben unserer Großeltern nicht in Betracht. Wenden wir uns dem Wächter zu, der glaubt, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Auf dem Hügel vor Argos leuchtet das lang ersehnte Freudenfeuer.
2-3
Klytämnestra zieht mit ihren Dienerinnen zu den Altären, um Opfergaben niederzulegen. Sie huldigen Zeus, von dem sie annehmen, dass er es war, der den Sieg begünstigte. Danach erklärt die Königin von Argos dem erregten Mob, weshalb er sich freuen soll. Die Feuerzeichen künden den militärischen Sieg über das verhasste Troja.
4
Aegisth, ein Verwandter des Königshauses, hat sich der königlichen Gemahlin in Liebe und Besitzgier genähert und gemeinsam mit ihr in der Abwesenheit des Königs die Regierungsgeschäfte ausgeübt. Nun fürchtet er die Bestrafung des heimkehrenden Siegers. Durch die Vorgeschichte des Hauses emotional belastet, fühlt Aegisth sich als Rächer, sieht sich aber mit der Ausführung einer Bluttat überfordert. Kindheitserinnerungen kehren zurück und konfrontieren ihn mit Gräueltaten, die alles Vorstellbare übersteigen. Tyest, der Vater des Aegisth, und Atreus, der Erzeuger von Agamemnon, gerieten in Streit über die Herrschaft von Argos. Atreus war der Stärkere und stieß Tyest vom Thron. Jahrelang weilte der Verbannte fern der Heimat, um eines Tages, Versöhnung mit dem Bruder suchend, zurückzukehren. Ein Festmahl wurde bereitet und Wiedersehensfreude geheuchelt, doch der heimtückische Atreus ergriff heimlich zwei Kinder des Tyest, um sie zu schlachten und dem Heimkehrer als Mahlzeit zu servieren. Solchen Frevel lassen die Götter nicht zu und verhängten über das Haus einen Fluch, unter dem die nachfolgenden Generationen zu leiden haben. Klytämnestra bestärkt ihren Liebhaber in dem Plan, den König zu beseitigen, und verspricht ihre aktive Mithilfe. Die Hasserfüllte trägt ihrem Gemahl nach, dass er einst ihre Lieblingstochter Iphigenie opferte, um für die auslaufenden Kriegsschiffe eine günstige Brise zu erwirken. Offenbar weiß die Mutter nicht, dass die Göttin Artemis das Opfer nicht angenommen hat und Iphigenie ins barbarische Tauris entrückte, um sie dort am Opferaltar als Priesterin zu beschäftigen. Hass und Angst vor Strafe beflügeln beide, die Ausführung des Königsmordes in allen Einzelheiten vorzubereiten.
Zweites Bild
5-6
Agamemnon hält seinen festlichen Einzug in Argos. Als Kriegstrophäe hat er Kassandra, die schöne Tochter des Priamos mitgebracht, die hoheitsvoll neben ihm auf dem Streitwagen steht. Das Volk jubelt, dass es nach zehn Jahren der Abwesenheit seinen König wiedersieht. Agamemnon berichtet vom Kampf um Troja und von dem Heldenmut, mit dem gekämpft wurde.
7
Klytämnestra umschmeichelt den Heimkehrer und lässt einen pupurfarbenen Laufteppich für ihn ausrollen, doch an äußerem Gepränge liegt Agamemnon wenig. Er ersucht die Gemahlin um liebevolle Aufnahme der Königstochter, die nicht als Gefangene, sondern als Gast in den Mauern von Argos weilen soll.
8
Klytämnestra begegnet Kassandra verständlicherweise mit Abneigung, ist ihr aber rhetorisch unterlegen. Die Tochter des Priamos besitzt die Gabe des zweiten Gesichts und kann in die Zukunft wie in die Vergangenheit schauen. Sie gerät in prophetische Ekstase, und von Entsetzen geschüttelt sagt sie den Mord an Agamemnon voraus. Mit Schaudern sieht sie auch ihren eigenen Tod in allen Einzelheiten. Die zukünftige Bluttat des Orest, der seinen Vater rächen wird, bleibt ihrem Seherauge nicht verborgen. Zu phantastisch sind ihre Weissagungen, als dass man ihnen glauben könnte. Die Heimat hat sie verloren und ihre Familienangehörigen auch. Nun greift der Wahnsinn nach dem schönen Mädchen, welches Apollo einst begehrte und sich eine Abfuhr holte.
Schauerlich hallen die Hilferufe Agamemnons durch die Nacht. Vergeblich versucht das aufgebrachte Volk, die Tore des Palastes aufzubrechen, um ihrem König zur Hilfe zu eilen. Lautlos findet Kassandra den Tod durch Mörderhand hinter dunklen Mauern.
9-10
Mit dem blutigen Schwert in der Hand tritt Klytämnestra vor das Volk und rechtfertigt ihre Tat. Nicht sie ist die Schuldige, sondern dem Fluch, der auf dem Geschlecht der Tantaliden lastet, konnte sie nicht entrinnen. Ein Dämon habe ihre Hand geführt, um Rache zu nehmen für zurückliegende Gräueltaten aller Art. Aegisth spielt sich als zukünftiger König auf, doch das Volk denkt an Widerstand. In Orest, dem Sohn des Königs und seiner Gemahlin, sieht sie den rechtmäßigen Nachfolger auf dem Thron. Doch wo ist er?
ZWEITER TEIL: DIE CHOEPHOREN
Erstes Bild
11-13
Klytämnestra hat sich mit ihrer Bluttat doch ein bisschen zu viel zugemutet. Nach Berichten anderer Autoren, die plausibler sind, war es Aegisth, der den Gewaltakt am König im Bade mit der Streitaxt verübte. Klytämnestra hat keine guten Nächte mehr, und bittet Morpheus, den Gott, der für gesunden Schlag zuständig ist, vergeblich um ein bisschen Morphium, damit sie endlich einmal durchschlafen kann. Der Geist Agamemnons erscheint ihr ständig, um ihr vorzuhalten, wie schändlich sie an ihm gehandelt habe. Er prophezeit ihr, dass ihr eigener Sohn Orest für ihre Heimtücke Vergeltung üben und ihn rächen wird.
Der Frauenchor versucht, die erregte Königin zu beschwichtigen, ist sich aber im Klaren, dass die Götter nicht auf der Seite der Täterin stehen. Ihre letzte Hoffnung ist Elektra, welche auf dem Totenhügel des ermordeten Gemahls die Götter um Schonung anflehen soll. Die scheinbar Unterwürfige tut so, als ob sie der Mutter gehorche, fleht aber nicht um Schonung, sondern um Bestrafung.
Zweites Bild
14-16
Hermes, der Patron der Reisenden, hat Orest wohlbehalten in die Heimat geleitet. Dem toten Vater konnte er die letzte Ehre nicht erweisen. Laut beklagt er sein Geschick und legt als Zeichen der Trauer statt Blumen eine frisch geschnittene Haarlocke auf dem Grabhügel nieder. Seine Schwester Elektra, die mit dem Frauenchor den toten Vater besucht, erkennt er schon von weitem. Elektra, die zwar nicht hellsichtig wie Kassandra aber auch ein bisschen mit magischen Kräften ausgestattet ist, ruft den Geist des Vaters aus der Unterwelt herbei, um Weisung zu erflehen.
17
Der Erkennungsszene folgt die stürmische Wiedersehensfreude. Man bedankt sich bei den Göttern und erbittet Zustimmung für den blutigen Racheakt. Orest behauptet, er habe den Auftrag, den Vater zu rächen, von Apollo selbst erhalten. Trotzdem ist damit nicht sichergestellt, dass die Aufgabe erfolgreich bewältigt wird. Immer wieder machen Menschen die Erfahrung, dass die Götter untereinander sich nicht einig sind. Was die eine Gottheit gut findet und befürwortet, geht einer anderen gegen den Strich. Oft verlieren die Himmlischen den Faden oder das Interesse und dann ist man der Willkür der Opposition ausgesetzt. Gut und günstig ist es in jedem Fall, viele Olympier auf seiner Seite zu haben, und deshalb wird geopfert, geweint und gebetet - zu jedem einzeln. Elektra erzählt dem Bruder den Tathergang haarklein, um seine Rachegelüste zu schüren. Der Frauenchor steht auf ihrer Seite und droht dem Mörderpaar mit psychologischer Unterstützung des beklagenswerten Geschwisterpaares.
Drittes Bild
18-20
Als Durchreisender, der um ein Obdach bittet, verschafft Orest sich Zutritt zum Palast. Angeblich habe er ungünstige Nachricht vom verschollenen Sohn der Familie, der in der Fremde plötzlich verstorben sei. Die angebliche Trauer der Mutter um den Verlust des verunglückten Kindes zieht Elektra in Zweifel. Sie versteht es, die Heuchelei der Mutter zu entlarven, und die Flammen des Zorns schlagen in Orest erneut hoch. Aegisth fällt seinem Hass als erster zum Opfer. Nun weiß auch Klytämnestra, dass sie keine Schonung zu erwarten hat und erinnert sich der Worte Kassandras. Zu spät erkennt sie in dem Fremden ihren Sohn Orest.
21
Sie verleugnet ihre Liebe zu dem Mann nicht, der ihr Schutz geboten hat, als Agamemnon vor Troja weilte und jetzt ermordet auf den Stufen des Palastes liegt. Orest, von Elektra aufgehetzt, will mit dem Schwert die Rache vollstrecken. Doch ein letztes Mal gelingt es der Totgeweihten, Rührung zu erzeugen, indem sie den Sohn an die Zeiten erinnert, als die Geschwister unter ihrer liebevollen Obhut heranwuchsen. Doch Orest steht unter dem Zwang des von Apollo erteilen Auftrags und lässt sich nicht besänftigen. Klytämnestra verflucht ihn, ruhelos umherzuirren und malt ihm die Verfolgung durch die Erynnien aus. Ein letzter Wortwechsel, und Orest schleift die Mutter an den Haaren in den Palast, um dort das Werk der Rache zu vollbringen. Die Frauen beklagen das Schicksal der unglücklichen Königin und bitten die Götter, das Haus der Atriden von dem furchtbaren Fluch zu erlösen.
22
Keineswegs ist Orest nach dem Muttermord erleichtert. Apollo lässt seinen Schützling schnöde im Stich. Der erhoffte göttliche Zuspruch und eine psychologische Betreuung bleiben aus. Elektra lässt sich nicht mehr blicken. Agamemnon verweilt in der Unterwelt. Wahnsinn ergreift den Täter, und die furchterregenden Rachegöttinnen nehmen die Verfolgung auf.
DRITTER TEIL: DIE EUMENIDEN
Erstes Bild
23
Die Furien geben dem flüchtenden Muttermörder keine Ruhe. Nicht einmal nachts lassen sie ihn schlafen, ihr Wutgebell schreckt ihn ständig auf. Die Höllengeister treten hautnah an ihn heran und ziehen und zerren an seinem Körper. Vermutlich soll er zu Tode gehetzt werden. Bei Nacht ist Orest unter Blitz und Donner an den Gestaden des Meeres angelangt und kniet im Sand, Apollo zum wiederholten Male um Schutz anflehend. Er kann den Anblick der Quälgeister nicht mehr ertragen. Die Augen sind blutunterlaufen und die Köpfe schlangenumwunden. Orest will sich ins Meer stürzen, wird aber von den Furien daran gehindert, denn schließlich sollen seine Qualen ewig anhalten. Wer den Bedauernswerten sieht, wird es sich zweimal überlegen, bevor er seine Mutter umbringt. Orest überlegt, nach Delphi zu eilen, um an dem Ort, der Apollo besonders heilig ist, das Anliegen seiner Entsühnung aufzurollen.
Zweites Bild
24-25
Im Apollotempel zu Delphi kann Orest ein Weilchen verschnaufen, denn hier genießt er Asyl - den Ort des Friedens dürfen die Furien nicht betreten. Zu Füßen des Altars fällt Orest nieder. Apollo selbst hat sich aus dem Dunkel gelöst und richtet den Verzweifelten auf. Die Angelegenheit ist nicht nach seinen Wünschen gelaufen, aber schließlich hat er Rücksicht auf olympische Onkel, Tanten und Geschwister zu nehmen, welche die Sache anders sehen als er. Doch er konnte seine Schwester, der die Stadt Athen geweiht ist, für sich einnehmen. Hier in Delphi hat sie nichts zu melden, Orest muss sich schon nach Athen bemühen. Sein Schutzgott verspricht Geleit ohne Belästigung durch die Quälgeister und nimmt die Furien vorübergehend in Gewahrsam, damit er seine Verteidigung auf der Akropolis sachlich ausarbeiten kann. Wenn allerdings zu seinen Ungunsten entschieden wird, kann der Kühnste ihm auch nicht mehr helfen, doch Orest ist voller Hoffnung.
Drittes Bild
26
Die offene Gerichtshalle wird von Olivenbäumen überschattet. Recht gesprochen wird im Mondschein, der Altar der Göttin steht unter Weihrauchwolken. Die zwölf Areopagiten - es handelt sich um das Schöffengericht - sitzen auf ihrem Steinsockel. Anklage und Verteidigung entfallen, denn schließlich weiß man, um was es geht. Das Volk ist zugelassen, weil der Fall öffentlich behandelt werden und vorteilhaftes Licht auf die Schutzgöttin werfen soll. Neue Gesetze wurden erlassen, die dem Gericht Möglichkeiten zu mehr Milde geben. Die Athener sind entzückt von ihrer Stadtgöttin. die ihnen den Olivenzweig gebracht hat.
27
Orest ist aufgeregt. Doch der Chor beruhigt ihn, dass im heiligen Hain Korruption und Bestechlichkeit ausgeschlossen sind. Die Schöffen erheben sich von ihren Sockeln und
werfen das Los in die Urne, welches über Glück oder Pech des Straftäters entscheidet. Die Auszählung ergibt absolute Stimmengleichheit. Die Unschuld muss eindeutig festgestellt werden, das ist bei Stimmengleichheit nicht der Fall. Orest bricht unter der Last seiner Niederlage reumütig zusammen. So etwas sehen Götter immer gern.
28
Dann geschieht das Unfassbare: Pallas Athene lässt ihren lyrischen Sopran ertönen, steigt von einer Wolke getragen hernieder. Der schimmernde Brustpanzer umschließt ihren Rumpf und der goldenen Helm schmückt das göttliche Haupt. Sie hat ihren eigenen Schiedsspruch dabei, erklärt wie er lautet und wirft unter dem Klang der Harfe das Papier in die Lostrommel. Treu ihrer Losung, dass bei gerechtem Urteil Milde walten darf, hat die Hoheitsvolle Orest von einer Schuld freigesprochen und zu seinen Gunsten entschieden - damit ist die Stimmengleichheit aufgehoben. Warum auch sollte die Herrin über Athen den Bruder Apollo mutwillig vor den Kopf stoßen und seinen Schützling, der bußfertig vor ihrem Altar liegt, ignorieren? Schließlich hat sie sich mit ihrem Bruder immer gut verstanden. Orest fällt ein Stein vom Herzen und der Chor äußert sich hymnisch über den weisen Urteilsspruch.
Letzte Änderung am 29.1.2017
Beitrag von Engelbert Hellen