Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791):
Scipios Traum / Scipio's Dream / Le songe de Scipion
Anlass: | zum Einzug und zur Huldigung des am 14. März 1772 erwählten Erzbischofs von Salzburg, Hieronymus Graf Colloredo |
Entstehungszeit: | 1772 |
Uraufführung: | 1. Mai 1772 (?) in der erzbischöflichen Residenz zu Salzburg |
Besetzung: | Solisten (SSSTTT), Chor (SATB) und Orchester |
Opus: | KV 126 KV2 126 KV3 126 KV6 126 |
Art: | Serenata drammatica in einem Akt |
Libretto: | Pietro Metastasio (1698-1782) nach Marcus Tullius Cicero ‚Somnium Scipionis’ |
Sprache: | italienisch |
Ort: | Königspalast von Karthago |
Zeit: | etwa 150 Jahre vor unserer Zeitrechnung |
Scipio: | römischer Feldherr (Tenor) |
Costanza: | Göttin der Beständigkeit (Sopran) |
Fortuna: | Göttin des Glücks (Sopran) |
Publio: | Großvater Scipios durch Adoption (Tenor) |
Emilio: | Vater des Scipio (Tenor) |
Licenza: | Allegorie der Huldigung (Sopran) |
Weitere: | Chor der Seligen |
Die Göttinnen der Beständigkeit und des Glücks haben eine Profilneurose und feinden sich an, weil jede der beiden unter den Menschen die Begehrteste sein will. Um Beweismaterial in die Hände zu bekommen, betreiben sie gemeinsam Meinungsforschung und erscheinen handverlesenen Kandidaten nachts im Traum.
Sie schildern ihre Vorzüge sowie ihre Unentbehrlichkeit, und Fortuna droht sogar mit Rache, falls man sich ihr nicht zuneigt. Zusätzlich besitzen beide ein Instrument, welches ein Herr aus Salzburg eigens für sie angefertigt hat, um die Wählerschaft der Opernbesuchern zu fesseln. Es sind Koloraturketten aus edelstem Notenmaterial von berauschender Schönheit, die eine entferntere Kollegin – die Königin der Nacht - vor Neid erblassen ließe. Obwohl letztere auf den Opernbühnen der Welt weitaus häufiger frequentiert wird, kann sie mit einer solchen überquellenden Fülle an Schmuck nicht aufwarten, wie die beiden Göttinnen hier zur Schau stellen.
Im Moment ist das bevorzugte Opfer der beiden geltungsbedürftigen Damen der Römer Scipio. In politischer Mission weilt er im Palast seines Freundes – damals noch - des Königs Massinissa, und hält auf seiner Chaiselongue ein kleines Nickerchen.
Aus einem erquickenden Schlaf wird nichts. Die beiden Himmlischen schleichen sich in seinen Traum und versuchen, ihn für ihre Belange einzuspannen. Der Sohn des Emilo soll ihren Schritten folgen. Der Aufgeschreckte ist aber nicht gefügig, sondern poltert, weil es jemand wagt, seinen Schlaf zu stören. Wer sind die Verwegenen überhaupt? Die Damen mögen sich doch bitte vorstellen. Aufgefordert, sich zu beruhigen, wendet Scipio sich ihnen zu. Eine Flut von Licht und unbekannte Harmonien lenken ihn von seinem Zorn ab. Scipio findet die Gestalten heiter, will von ihnen nun endlich wissen, wie sie heißen und wo er sich befindet.
Die Göttin der Beständigkeit gibt sich als Beschützerin der Helden aus, während die andere behauptet, alles Glück der Welt sei eine Spende von ihr. Was wollen die beiden eigentlich von ihm? Ohne Umschweife geben sie den Zweck ihres Besuches bekannt. Er soll sich entscheiden und eine von ihnen zur Lebensgefährtin wählen. Die Beständigkeit ist sogleich beleidigt. Er hat ihren Namen gehört und er kommt nicht zu ihr? Leicht erklärt: Der menschliche Geist wagt sich nicht zu entschließen, wenn er unter Druck handeln soll. Die Verwunderung über ihr Erscheinen sei noch nicht gewichen. Wenn man Dinge nicht weiß, muss man sie erfragen, klärt die Beständigkeit ihn auf. Fortuna meint das gleiche, aber er soll sich bitte kurz fassen. Ruhe ist ihr unerträglich, denn ihr Ergötzen sei es, Ort und Anblick unentwegt zu wechseln. Sie schwanke ständig zwischen Zorn und Heiterkeit. Am meisten Spaß macht es ihr, bedrückte Völker aufzurichten um sie dann wieder niederzuwerfen.
Scipio stellt fest, dass er sich nicht mehr in Massinissas Residenz befindet und offenbar verschleppt wurde. Afrika liegt unendlich fern, zurzeit befinde er sich im Himmelstempel. Sieht er nicht die vielen Sterne, die ganz nah sind, wenn er auf die Terrasse schaut? Jeder Stern bringt einen anderen Ton hervor, und aus dem Zusammenklang formt sich die Harmonie des Weltalls. Warum gibt es diese tolle Harmonie nicht auf der Erde? Nun, weil es die Kräfte der Sinne überschreiten würde, lautet die intelligente Antwort! Das Auge, das sich zur Sonne wendet, sieht die Sonne nicht, weil der Glanz es blendet.
Jetzt ist genug geplappert; Scipio soll sich entscheiden, welche Göttin er zur Lebensgefährtin erkoren hat. Der Feldherr lenkt ab und will wissen, wer hier oben sonst noch wohnt. - Viele Leute, denn der Himmelstempel ist sehr geräumig, erwidert die Glücksgöttin. Er soll schauen, wer da kommt. Erkennt er seinen Opa nicht?
Tatsächlich: Publio, der große Ahne, der Bezwinger Afrikas, hält sich hier oben auf. Ist er nicht vor langer Zeit zu Tode gekommen? Scipio soll nicht vor Schauder erstarren. Wenn man zu Asche zerfällt, muss man deshalb nicht gleich sterben. Tatsächlich verhält es sich so: Der Körper ist nur eine Hülle, die eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit erlaubt. Innen drin sitzt der unsterbliche Funke. Wer anständig gelebt und das Vaterland geliebt hat, darf sich in den ewigen Wohnstätten niederlassen. Wer auf Erden das allgemeine Wohl im Auge und sein Blut für die Seinen vergossen hat, erhält ein Appartement in bevorzugter Wohnlage. Wenn er eines Tages auch hier wohnen möchte, soll er auf keinen Fall die lieben Ahnen vergessen. Wer nur für sich lebt, hat nicht verdient, zur Welt gekommen zu sein.
Fortuna ist ungeduldig und will das Gespräch beenden. Ihre Langmut ist erschöpft, aber Costanza meint, wer viel fragt, ist hinterher urteilsfähiger. Der Tribun will wissen, ob sein Vater auch hier wohnt. Ist Scipio blind? Der Vater steht doch die ganze Zeit neben ihm.
Tatsächlich, die väterliche Majestät ist anwesend. Der Sohn empfindet im Herzen das Gefühl von Liebe und Ehrfurcht, während der Vater eine gelassene Miene zur Schau stellt. Freut er sich über das Wiedersehen nicht? Freude hat im Himmel andere Formen, wird er belehrt. Falsche Begriffe, die er sich auf Erden gemacht hat, sind hier oben unbrauchbar. Sieht er dort unten, von trüben Nebeln eingehüllt, den kleinen blauen Ball, diesen winzigen Punkt? Es ist die Erde! Meere, Flüsse, Wälder, Wüsten, Rom, der Tiber, jede Menge Völker, alles zu einem kleinen Punkt zusammengeschmolzen. Ach, geliebter Vater, welch elende Bühne hat der menschliche Prunk. Die Schauspieler auf dieser Bühne – alle Subjekte zum Totlachen - kommt die Antwort.
Scipio gefällt es im Himmelstempel über die Maßen, und er möchte in Gegenwart seiner Ahnen immer hier verweilen. Kommt gar nicht in Frage, er hat noch ein Weilchen zu leben! Die beiden Gottheiten protestieren heftig. Noch ist es nicht erlaubt, noch steht es ihm nicht zu! Er wird noch lange leben, bestätigt der Vater. Der Plan des Schicksals sieht anders aus. Das Wohl und der Schutz Roms verlangen seine Anwesenheit.
Auf den Lorbeer seiner Ahnen kann er wirklich stolz sein. Dem Großvater war es vergönnt, die hochmütige Feindin Afrika ins Joch zu zwingen und Scipios Aufgabe wird es sein, es zu zerstören. Er soll jetzt gehen und seine Brust nicht nur auf Triumph, sondern auch auf Unglück vorbereiten. Die Eiche wird beständiger und schlägt tiefere Wurzeln, wenn sie vom Wind bekämpft wird. Entlaubt der Winter ihre Krone, wird sie an Schönheit verlieren, aber an Kraft gewinnen. Was der Alte sich aus seinem Erdendasein alles gemerkt hat!
Jetzt wird es aber Zeit, sich zwischen den beiden Bewerberinnen zu entscheiden. Auch die Beständigkeit verliert langsam die Geduld. Er weiß jetzt genug, um einen Entschluss zu treffen. Der Geforderte ist ratlos und fleht den erhabenen Vater an, ihm zu raten. Dieser will ihm die Ehre der Wahl jedoch nicht ersparen.
Die Glücksgöttin drängt ihn, dass er sie endlich beim Schopf fassen soll. Was will er unternehmen, wenn sie ihn nicht als Freundin bei seinen Taten unterstützt? Sie zeigt ihm die Hand, die Freud und Leid verabreicht, Beleidigung und Ehre, Elend und Schätze austeilt. Das Arsenal, welches Fortuna verwaltet, ist wirklich ehrfurchterregend. Scipio lässt sich nicht einschüchtern! Gibt es niemanden, der sich dieser ungeheuren Macht entgegenstellt?
Wie gut, dass es Costanza gibt. Sie allein traut sich zu, Fortuna zu trotzen. Sie ist es, die ihrem Reich Gesetze gibt und Grenzen setzt. Dort, wo sie waltet, reicht ihre Macht nicht hin. Vor ihr haben Fortunas Gaben keinen Glanz. Wert und Tugend müssen durch die ungleiche Schwester zwar hin und wieder Beleidigung erdulden, aber der Faktor Zeit übt oftmals bittere Rache. Es ist die Beständigkeit, die Reiche erhält. Es war einzig ihre Großtat, Hannibal zur Besinnung zu bringen.
Ein weiteres Beispiel für den Wert der Beständigkeit hat Costanza anzubieten. Die aufgetürmte See scheint den Felsen in der Brandung zu verschlingen. Doch diesem fällt es gar nicht ein, zu wanken. Stolz hält er stand. Das Meer beruhigt sich wieder und hat nur an seinem Sockel geleckt.
Scipio leuchten ihre Ausführungen ein, und Costanza braucht nicht weiter zu argumentieren. Er ist bereit ihr zu folgen und sich leiten zu lassen. Die Beständigkeit hat triumphiert.
Fortuna ist empört, dass ihre Gaben so gering geachtet werden und entfacht ein Koloraturfeuerwerk. Fürchtet er ihren Zorn nicht? Sie macht noch einen letzten Umstimmungsversuch. Vergeblich: Scipio bleibt hart und fordert die Enttäuschte auf, sich vor seiner unerschrockenen Seele und seinem edlen Herzen zu verneigen. Es sind doch alles nur Feiglinge, die sie verehren!
Der Göttin reicht es. Jetzt soll der Unbelehrbare sie als Gegnerin kennenlernen. Grauenvolles Unheil und düsteres Unglück sind die beiden Diener ihres Zorns. Finsternis, Stürme, Nebelschleier, Blitze - alles bricht über Scipios Haupt herein, so dass er von den gewaltigen Eruptionen erwacht. Aber er fühlt, dass Costanza sich in seiner Brust und in seinem Herzen niedergelassen hat. Sie wird bei ihm bleiben und er wird sich ihrer Leitung anvertrauen.
Eigentlich wäre die Oper damit zu Ende, aber die Huldigung tritt noch in Person auf. Ihre Lippen preisen Scipio und Hieronymus mit der Mitra, den Fürstbischof von Salzburg.
Es mussten mehr als zweihundert Jahre vergehen, bis man sich in Salzburg darauf besann, den ‚Scipio’ wieder auszugraben. Dabei besitzt dieses Frühwerk alle Vorzüge, die man sich nur wünschen kann. Der Einakter ist wie aus einem Guss. Metastasio, der Wiener Hofdichter, verstand es, ein Libretto zu schaffen, das intellektuellen Ansprüchen genügt. Auf höchstem Niveau wird geblödelt, ohne die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten. Ursprünglich für einen anderen Anlass gedichtet (nämlich 1735 zum Geburtstag Karls VI. im Auftrag der Kaiserin Elisabeth), wurde der Text zur Inthronisierung des Fürstbischofs von Salzburg aus der Schublade hervorgeholt, von Mozart vertont und der Abschluss der Feier des Tages angepasst.
Die Musikwissenschaft vertritt heute die Auffassung, dass das Jugendwerk nicht zur Aufführung gekommen sei und man sich mit der abschließenden Huldigungsarie begnügte. Es würde unter Umständen bedeuten, dass Mozart den Scipio selbst als Aufführung nie erlebt hat.
Die Oper kommt ohne gesprochenen Dialog aus, und Mozart hatte drei Tenöre und zwei Koloraturmonster mit Arien auszustatten, was ihm bestens gelang. Der Chor der Seligen hält sich bescheiden im Hintergrund. Es ist nicht die Routine, sondern die Gabe der Inspiration, die den Maestro beflügelte. Die beiden Göttinnen des Glücks und der Beständigkeit aus dem Stück hatten ihre Hände gewiss nicht im Spiel. Es müssen Apollo mit den zuständigen Musen der Musik und der Dichtkunst dem Genie ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Der historische Scipio hat Karthago zerstört.
Letzte Änderung am 27.10.2006
Beitrag von Engelbert Hellen und Markus Hillenbrand