Gian Carlo Menotti (1911-2007):
Die Heilige der Bleeker Street
Entstehungszeit: | 1954 |
Uraufführung: | 27. Dezember 1954 in New York (Broadway Theater) |
Besetzung: | Soli, Chor und Orchester |
Spieldauer: | ca. 120 Minuten |
CD: | [Details] |
The Saint of Bleecker Street (Chandos, DDD, 2001) Gian-Carlo Menotti (1911-2007) |
Art: | Musikalisches Drama in drei Akten und fünf Szenen |
Libretto: | Gian Carlo menotti |
Sprache: | englisch |
Ort: | Italiener-Viertel von New York |
Zeit: | 20. Jahrhundert |
Annina: | eine Stigmatisierte (Sopran) |
Michele: | ihr Bruder (Tenor) |
Desideria: | Micheles Geliebte (Mezzosopran) |
Don Marco: | der Pfarrer (Bass) |
Carmela: | Anninas Freundin (Sopran) |
Maria Corona: | eine Zeitungsverkäuferin (Sopran) |
Assunta: | (Mezzosopran) |
Salvatore: | (Bariton) |
Erstes Bild:
Es ist Karfreitag-Nachmittag. Fanatische Gläubige drängeln sich in der ärmlichen Wohnung eines Mehrfamilienhauses im Italiener-Viertel von New York. Ihre Aufmerksamkeit gilt Annina, einem leidenden jungen Mädchen, welches von Visionen geplagt wird und angeblich in der Lage ist, Krankenheilungen zu vollbringen. Das geht aber nicht auf Kommando, sondern die Leute müssen warten bis ihre Visionen eintreffen. Eine Betschwester aus der Nachbarschaft verkürzt den Anwesenden die Wartezeit mit dem Vorbeten einer Litanei. Die Tür von Anninas Schlafzimmer ist einen schmalen Spalt geöffnet. Ein Junge schaut hinein und gibt den Anwesenden kund, wann der Zustand erreicht ist, dass die Visionen einsetzen.
In der Erwartung, dass das wundertätige Mädchen für ihn etwas tun kann, hat Maria Corona ihren stummen Sohn hergebracht. Carmela und Assunta versuchen ihr zu erklären, dass man auch an die Wunderkräfte glauben muss, bevor eine Veränderung des augenblicklichen Zustandes einsetzt. Alle sind ungeduldig und der Pfarrer des Stadtviertels versucht, die Ordnung aufrecht zu halten und Handgreiflichkeiten Einhalt zu gebieten.
Schließlich ist es soweit. Zwei Männer tragen das Mädchen aus dem Schlafzimmer und setzen die Verzückte in einen Lehnstuhl. Ihre Mimik und Gebärdensprache verraten den Anwesenden, dass das Mädchen in einer Vision den Kreuzestod Christi nacherlebt. Annina beendet ihren Monolog mit einem gellenden Schrei und sinkt entkräftet ins Kopfkissen zurück. Sie öffnet ihre schlaffen Hände und in den Handflächen zeigen sich die gleichen Wundmale, wie sie auch bei der Kreuzigung Jesu entstanden sind. Die Menschen geraten in Hysterie und versuchen verzückt, die blutigen Male zu berühren.
„Stop it!
Out of here, all of out!
What do you think this is... a market place?
Leave my sister alone! -
Raus mit euch allen!
Was glaubt ihr, was hier ist... ein Rummelplatz?
Lasst meine Schwester in Frieden!“
Michele, der Bruder des Mädchens hat seine Wohnung betreten und versucht, die Leute aus dem Zimmer zu drängen. „Narren, Blutsauger, Fanatiker! Raus, aber schnell. Soll ich die Polizei holen? Raus, raus!“
Er trägt mit Carmelas Hilfe Annina in ihr Zimmer zurück.
Der Opernchor meldet sich zu Wort, dass Michele ihnen die Sonne auslösche und das Himmelslicht absperre. Der Herr solle ihm verzeihen und sich seiner erbarmen!
Weshalb geht Hochwürden nicht weg? Wie oft muss ihm Michel noch sagen, dass er hier nicht willkommen ist. Don Marco erklärt, dass er erst gekommen sei, als man nach ihm holte. Seine Schwester brauche ihn. Michele ist der Ansicht, dass Annina Ärzte brauche, aber keine Priester und keine Kerzen. Wenn er Geld hätte, würde so etwas nicht passieren. Reiche Leute bekommen ihre Visionen im Krankenhaus.
Gott suche seine Heiligen an allen Orten, erklärt Don Marco. Glaubt er wirklich daran, dass hier das Walten Gottes vorliegt oder sind es nicht eher die Wahnvorstellungen eines kranken Geistes, hält Michele dagegen. Priester seien keine Richter, sondern nur Seelenhirten. Er habe auch nicht behauptet, daran zu glauben, aber sie glaubt an Anninas Vorstellungen und diese müssen geleitet werden. Das Leiten besorge er, denn er sei ihr Bruder. Brüder und Schwestern sind wir alle miteinander. Michele ersucht Hochwürden nunmehr, sich in Zukunft von ihnen fernzuhalten und sie mit seinem Fanatismus zu verschonen. Ach, der arme Michele denkt, er sei sein Rivale - das sei der Herrgott selbst! Wo bitteschön kann man im menschlichen Leben, in einem Morast von Elend, Hunger und Krankheit die Anwesenheit Gottes erblicken?
Zweites Bild:
Die Zeit ist bis September vorgerückt und es naht der Namenstag des Heiligen Gennaro. Draußen sitzen Annina und ihre beste Freundin Carmela und stellen ein Engelskostüm für ein Kind fertig. Carmela hat ein schlechtes Gewissen, denn ursprünglich hatten beide die Absicht in ein Nonnenkloster einzutreten. Carmela hat ihren Entschluss, die Braut Christi zu werden, jedoch rückgängig gemacht und teilt ihrer Freundin mit, dass sie mit Salvatore verlobt ist. Annina nimmt den Wortbruch nicht übel, denn an Bräuten mangelt es dem Erlöser nicht.
Annina trumpft mit einer anderen Geschichte auf, denn in ihren Visionen ist sie dem Heiligen Petrus begegnet, der ihr die himmlischen Wohnungen gezeigt hat und wie herrlich sich darin leben lässt.
Michel hatte Annina verboten, an der Prozession des heiligen Gennaro teilzunehmen, weil er von dem Aufwand, der um seinen Reliquienkult getrieben wird, nichts hält. Er möchte seine geliebte Schwester in ein irdisches Paradies führen, in dem die Menschenliebe regiert. Mit seinen Glaubensvorstellungen steht Michele grundsätzlich in Opposition zur herrschenden Meinung. Maria Coronas Warnung hat nichts genutzt, denn eine Schar junger Männer kommt und bindet den Abspenstigen an den Gartenzaun, nachdem sie ihn zuvor verprügelt haben.
Die verängstigte und hilflose Annina tragen sie auf den Schultern unter dem Jubel der Menschenmenge in die Prozession, denn es kann nicht angehen, dass „ihre kleine Heilige“ aus ihrer Mitte ausgeschlossen wird, weil der böse Bruder es so will.
Nachdem die Prozession den Blicken entschwunden ist, kommt Desideria herbei und bindet ihn los. Sie küsst den schluchzenden Geliebten leidenschaftlich, der jetzt hoffentlich begreift, was er an ihr hat.
Drittes Bild:
Im wunderschönen Monat Mai wird die Hochzeit von Carmela und Salvatore in einem in nächster Umgebung liegenden festlich geschmückten Lokal gefeiert. Viele Gäste sind erschienen und überbringen ihre Glückwünsche. Obwohl Desideria auch Nachbarin ist, wurde sie nicht eingeladen. Sie lebt bereits mit dem Außenseiter Michele zusammen, obwohl sie noch nicht mit ihm verheiratet ist. Sie sieht nicht ein, dass man sie als leichtes Mädchen betrachtet und ihr abweichendes Moralverhalten ankreuzt, Michele aber zur Hochzeitsfeier kommen darf.
Salvatore muss Annina versprechen, dass er zu Carmela immer gut sein wird, denn sie sei ihre beste Freundin. Desideria taucht auf und fragt den Kellner, wo Michele sei. Sie will doch etwa keine Szene machen? „Desideria, was willst du hier?“ fragt Michele sie. „Ungebetene Gäste sind wohl noch gefürchteter als der Teufel!“ reagiert die Gekränkte. Wie kann Michele so grausam sein, an einem Vergnügen teilzunehmen, zu dem man ihr den Zutritt verwehrt? Sie will keinen Ring und keinen Brautschleier von ihm, sondern er solle ihr lediglich seine Liebe beweisen. „Weshalb beklagt sie sich?“ Hat er ihr nicht Liebe geschworen oder wirft sie ihm etwa Untreue vor? Warum zweifelt sie an ihm? Was kann sie überzeugen? Er solle ihr zeigen, dass er stolz auf sie ist und zu seiner Liebe steht. Doch wenn sie das Gefühl hat, dass er sich ihrer schämt, wird sie sich umbringen. Desideria möchte, dass Michele mit ihr in den Bankettsaal geht. Das kann er nicht, weil sie nicht formell eingeladen ist! Sie solle bitte daran denken, dass Carmela Anninas beste Freundin ist und Rücksicht nehmen.
Annina, Annina, ewig Annina! Was tut sie eigentlich für ihn, außer für sein Seelenheil zu beten und Kerzen anzuzünden? Aber die Schwester habe ihn betört und ihretwegen verderbe er sich sein ganzes Leben. Warum lässt er sie nicht zufrieden und gibt sie nicht frei und verbringt sein Leben mit ihr? Sie braucht ihn und er braucht sie. Weiß er das nicht?
Michele ist gereizt. Was will sie denn noch von ihm? Annina ist krank und sie braucht ihn auch. Schließlich ist sie seine Schwester. Sie soll aufhören damit, ständig Annina zu erwähnen. Sie hat mit ihnen beiden nichts zu tun. Wenn Desideria unbedingt will, können sie zusammen hineingehen, aber sie soll sich über ungewöhnliche Reaktionen nicht wundern.
In diesem Moment tritt Don Marco auf den Plan und verwehrt beiden den Zutritt. Er fragt, was Desideria hierher bringe. Michele will doch nicht etwa mit ihr dort hinein? Was geht Don Marco das an? Michele soll bitte nicht schon wieder provozieren - und gerade heute. Um seiner selbst willen soll er Abstand nehmen, schlägt Don Marco vor. „Zu gütig!“ kommt es ironisch zurück. Er soll sich raten lassen, sie nicht hineinzuführen! Michele wird heftig. Er habe Don Marco nicht um Rat gefragt. Desideria sei viel besser, als andere Frauen drinnen. Mag sein, dass es stimmt, aber er ist sich sicher, dass Desideria im Festsaal nicht willkommen ist. Don Marco bleibt hartnäckig! Das sei ihm gleich, entgegnet Michele, er soll sie bitte vorbeilassen. Don Marco beschwört ihn - um Anninas Willen! Nun wird es Michele zu bunt und er wird laut: Hochwürden soll sich nicht unterstehen, ihm den Weg zu verlegen. Das priesterliche Gewand schrecke ihn nicht. Wenn der Pfarrer denkt, dass er ihn durch seine Magie zähmen kann, wird er bald erfahren, wer er ist. Er hebt die Faust gegen Don Marco.
Der Chor mischt sich ein:
„Eh! What is the matter?
Who is having a fight?
It is Michele.
He's after Don Marco again.
Desideria is with him, the little slut!“
Annina kommt aus dem Bankettsaal und fragt, was los sei. Was tut man ihrem Bruder an? Salvatore mischt sich ein. Immer ist es Michele, der Streit anfängt. Warum lässt er sie nicht in Ruhe? Muss er sogar an diesem Tag Unfrieden produzieren? Michele stößt Annina weg, schenkt sich ein Glas Wein ein und hält den Anwesenden eine Standpauke. Er beschuldigt sie in ihrer Lebenshaltung keine klare Linie zu ziehen und zwischen überkommenen Werten und neuem Gedankengut nicht zu unterscheiden. Er will der neuen Welt angehören und nicht, dass man zu ihm sagt, als Ausländer solle er in seine alte Heimat zurückkehren. Voller Stolz berichtet man über die Schönheit Italiens und klebt an der alten Heimat. Vielleicht würde er in das Loblied einstimmen. Aber er hat die Heimat nie gesehen und sieht auch nicht ein, weshalb er stolz auf sie sein soll.
Don Marco hat die Geringschätzung aus Micheles Worten herausgehört und sagt ihm, dass er sich irre, denn er habe nur brave Leute vor sich. Er sei verbittert und urteile deshalb schlecht über seine Landsleute. Annina versucht ihre Freundin, die zitternd, in Salvatores Armen hängt, zu trösten. Aus Michele spreche der Wein. Sie solle sich ihren schönen Tag nicht verderben lassen und ihrem unfreundlichen Bruder verzeihen. Einige Gäste verlassen den Saal und begeben sich auf die Straße.
Annina stellt sich neben Michele und streichelt seinen Kopf. Sie schlägt vor, heimzukehren. Desideria kommt aufgebracht aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hat, hervor: Ja, Michele soll heimgehen. Am besten sei es, wenn beide sich verstecken würden, legt sie höhnisch nach. Jetzt ist ihr klar, warum er sie nicht heiraten will, obwohl ihre Liebe heller leuchtet, als die Sonne. Jeder soll es hören, er sei nicht in sie verliebt, sondern in seine eigene Schwester.
Michele reagiert wie von Blitz getroffen. Was sagt sie da? Desideria entgegnet, dass es sich so verhalte, wie sie sagt und seine Schwester wisse es auch. Das ist erlogen, protestiert Michele. Annina hält ihn zurück und bittet, die die Aufdringliche in zu Ruhe lassen. „Die kleine Heilige hat ihres Bruders Herz gestohlen!“ tönt unüberhörbar Desiderias Stimme. „Du Luder!“ Michele geht drohend auf Desideria zu. Die Lügnerin solle ihren Mund halten und sich nicht unterstehen, etwas über seine Schwester zu sagen. „Ah! Er kann die Wahrheit nicht ertragen!“ Desideria soll das Gesagte zurücknehmen! „Niemals!“ Michele packt Desideria bei den Schultern und schüttelt sie. Sie solle keine Scherze mit ihm treiben! Der Männerchor rät, das aufgebrachte Mädchen in Frieden zu lassen und sich nicht mit ihr gemein machen.
Annina fleht, dass Michele mit ihr nach Hause kommen soll, denn er sei betrunken und sie bittet die Männer, ihn zurückzuhalten. Michele fordert Desideria erneut auf, ihre Provokation zu widerrufen. Andernfalls wird sie ihre Verlogenheit büßen. Annina drängt, dass er mit ihr heimgehen und die andere in Ruhe lassen soll. „Gib es zu! Gib es zu!“ Annina, beschwört Michele, dass er nicht auf die Verrückte hören soll. „Du liebst sie, Du liebst sie, Du liebst sie!“ reagiert die Widerspenstige hysterisch und immer wieder formuliert sie die gleiche Phrase.
Michele drückt Desideria an sich. Plötzlich nimmt der Hitzkopf ein Messer und stößt es ihr in den Rücken. Desideria drängt Michele weg und versucht mit der Hand nach der Wunde zu tasten. Die Augen sind weit geöffnet und dann bricht sie zusammen. Ein paar Frauen schreien laut auf. Annina läuft zu ihr hin. „Desideria! O mein Gott was ist geschehen?“ Der Kellner geht ans Telefon, um die Polizei zu verständigen.
Annina kniet neben Desideria, die ahnt, dass sie sterben wird. Michele fährt hoch wie aus einem unliebsamen Traum und wirft beim abrupten Verlassen des Lokals versehentlich noch einen Tisch um. Desideria ist lammfromm geworden: sie fürchtet sich und Annina soll ihr in der Sterbestunde beistehen. Die Unglückliche soll sich nicht fürchten, sondern mit ihr beten, schlägt die kleine Heilige vor. Der liebe Gott möge sie in seiner unendlichen Liebe in sein seliges Reich führen. Annina nimmt die Sterbende in die Arme, während von draußen die Sirenen des Streifenwagens heulen.
Viertes Bild:
In der Passage einer U-Bahn-Station besitzt Maria Corona einen Zeitungsstand. Annina ist hier mit ihrem flüchtigen Bruder verabredet und wartet unten am Aufgang zur Straße. Maria Corona tröstet sie, dass Don Marco ihn bestimmt nicht verraten wird, denn ihr Bruder hat den Seelsorger im Beichtstuhl um Hilfe gebeten. Der arme Engel soll sich neben sie setzen, weil dort der Ofen ein bisschen Wärme gibt. Hat Annina das Bild von Michele in der italienischen Zeitung gesehen? Er sieht wirklich gut aus! Soll Maria ihr vorlesen, was die Presse über ihn berichtet? Sie hat alle Artikel ausgeschnitten und verwahrt sie in einer Schublade. Maria Corona betrübt es, dass sie nie in der Zeitung steht. Offenbar ist sie zu hässlich, um noch fotografiert zu werden. Das Poltern der U-Bahn ist wieder zu hören, aber Annina ist erschöpft eingeschlafen und hat ihren Kopf an die Schulter der Freundin gelehnt.
Don Marco kommt die Stufen herunter und schaut sich um, ob die Luft rein ist. Mit Michele im Gefolge kehrt er dann zurück. Don Marco warnt Michele, er solle bedenken, dass seine Schwester sehr krank ist und jede Aufregung für sie schädlich sei. Sein theologischer Instinkt, lässt ihn noch die Phrase nachschicken, dass der Herr allen verzeihen möge. Don Marco verschwindet schnell wieder, denn er möchte nicht in den falschen Verdacht der Beihilfe zur Flucht geraten. Maria Corona klopft Annina behutsam auf die Schulter und bemerkt „I think, he is here!“
„Wie geht es Dir Michele? Wo versteckst Du Dich?“ Überall, aber für ihn gebe es keine Ruhe mehr. Annina rät, sich der Polizei stellen und seine Strafe auf sich zu nehmen. Das soll sie nicht von ihm verlangen! Selbst wenn der Herrgott gegen ihn ist, wird er bis zum Ende kämpfen. Wo ist seine Hoffnung und wo seine Träume? Alles verloren in einer einzigen Stunde. In einem einzigen Glas sauren Wein sei sein ganzes Leben ertrunken. Seine Nacht kenne nur Dunkelheit und für seinen Flug ins Ungewisse gäbe es keinen Kompass. Als sanftes Licht verbleibt ihm nur seine Schwester. Für sie muss er weiter kämpfen.
Annina bittet den Himmel, ihr die Kraft zu geben, es ihm zu sagen! Was hat sie ihm zu sagen? Ach, sie sei sehr krank und werde voraussichtlich bald sterben. „Wer hat das gesagt?“ „Ihre Stimmen haben ist es gesagt und ihre Stimmen lügen nicht!“ Michele behauptet, dass sie irrt, denn ihre „Stimmen“ seien ihre einzige Krankheit und diese können auch lügen. Es sei das Beste, die Stimmen zu vergessen! Annina wird zornig: Michele solle nicht versuchen, sie zurückzuhalten und ihr nun Lebewohl sagen.
„Was meint sie damit?“ Sie wird - wie seit langem geplant - in ein Nonnenkloster eintreten, entgegnet die kleine Heilige. Nein, nein! Das wird er nie erlauben. Wie kann sie nur an so etwas denken - Jetzt, wo er sie am meisten braucht! Das kann sie ihm nicht antun. „Was taucht sie der Welt, wenn sie den eigenen Bruder, der um Hilfe ruft, im Stich lässt?“ Michele fühlt sich von anderen Fahrgästen beobachtet, geht in eine dunkle Ecke und steckt sich nervös eine Zigarette an. Eine Schar lärmender Schulkinder läuft die Treppe herauf zu Straße.
In einem Anfall von Missmut verkündet Michele der Schwester, dass ihre Wege sich nie mehr kreuzen werden, wenn sie ihn jetzt verlässt. Aber er weiß doch, wie lieb er ihr ist. Nur seinetwegen ist sie hier geblieben und hat seiner geharrt. Nun soll er sie aber eilen lassen, denn die Liebe Jesu wartet auf sie. Michele macht einen letzten Versuch: Annina sei das milde Licht, das ihn leite. Wenn sie bleibt, wird er für sie weiterkämpfen. Jetzt erwacht der Widerspruchsgeist in dem Mädchen und ihre Reaktionen fußen auf unbändigen Trotz. Versteht Michele nicht, dass sie ihm nicht mehr helfen kann? Sie wird für ihn beten. Er brauche jetzt mehr, als Gebete. Annina erklärt, dass sie gerade seine Stimme hört und denkt dabei an den Erlöser. Die Stimme, die sie hört sei seine, korrigiert Michele die liebe Schwester. „Wie kann man nur der Stimme Gottes widerstehen“, lautet ihre Antwort „Sind wir nicht alle Gottes Kinder?“ „Nur, wenn wir ihm dienen!“ „Verlässt Annina ihren Bruder im Namen Gottes?“ Ihr ständiger Wunsch sei auch ihr letztes Begehren! Michele beschwört Annina, sie sei noch so jung, um sich von der Welt in ein Kloster zurückzuziehen. Doch sie bedeutet ihm, dass es zwecklos sei, sie umstimmen zu wollen. Lebe wohl für immer!
Gut, dann soll sie ihren Weg gehen, aber seine Schuld wird sie mit sich tragen und ewig von seinem Fluch verfolgt sein. Nein, Michele soll nicht so von ihr gehen. Doch auf weiteres Wortgeplänkel hat der sich gefoppt Vorkommende keine Lust mehr. Er stößt sie von sich und verschwindet. Annina bricht am Fuße der Treppe zusammen und weint bitterlich.
Fünftes Bild:
Annina liegt in ihrem Lehnstuhl, während Assunta und der Frauenchor liturgische Gesänge anstimmen. Carmela und Salvatore haben sich in eine Ecke verdrückt. Ihre inneren Stimmen haben Annina gesagt, dass, sie heute den Schleier nehmen wird. Das wird sie auch, betont ihre Freundin. Wie könnte ihr die Kirche verwehren, was Gott will. Annina hat Angst, dass sie den Abend nicht mehr erleben wird. Gesundheitlich geht es ihr sehr schlecht, obwohl der Arzt gesagt hat, dass ihr Herz heute viel kräftiger schlägt, als gestern. Annina macht sich Sorge, wenn die Zustimmung der Kirche heute eintrifft hat sie kein weißes Kleid. Das kleine Dummchen soll sich darüber keine Sorgen machen, denn Carmela hat an alles gedacht. Sie kramt ihr Hochzeitskleid hervor und schenkt es der Freundin. Die Bewilligung der Kirche ist auch angekommen. Es hat an der Tür geklingelt und ein junger Priester ist der Bote, der Don Marco den kirchlichen Bescheid überreicht. Annina wusste es genau, dass ihre Stimmen nicht lügen und Jesus sich von seiner glücklichen Braut nicht abwenden wird. Die Freude und die Aufregung machen ihrem Herzen zu schaffen. Annina möchte für einen Moment allein sein, um ein Gebet zu sprechen: „Oh Geliebter, endlich kommt die Stunde der Seligkeit. Hilf mir, dieses Glück zu ertragen!“ Sie fragt Carmela, ob ihr Brautschleier und ihr Kranz bereitliegen.
Assunta kommt mit der Neuigkeit, dass man Michele hier in der Nähe des Hauses gesehen hat. Don Marco befiehlt Salvatore, sich an die Tür zu stellen und versucht, ihn nicht hereinzulassen. Wenn man bedenkt, was die Arme wegen Michele erduldet hat? Er hat ihr das Herz gebrochen! Salvatore meint, dass man vielleicht besser die Polizei verständigen solle. Jetzt noch nicht, man muss Rücksicht auf die Braut nehmen. Assunta trägt noch nach, dass Michele ihren Mann angesprochen und sich nach Annina erkundigt habe. Er ist das Kreuz, dass sie bis in den Tod tragen muss. Maria Corona meint, wegen seiner Sünden muss das arme Ding nun sterben.
Mit einer brennenden Kerze in der Hand erscheint die zukünftige Nonne in Brautkleid und Schleier in der Tür und lächelt befangen „Let us begin!“ Don Marco gibt das Zeichen, die Zeremonie zu starten. „Gloria tibi domine in saeculum et in saeculum saeculi. Ubi caritas et amor Deus ibi est. Alleluja.“ Protokollgemäß fragt Don Marco, wonach die Tochter begehre? „Nach Gottes Gnade und der heiligen Tracht der Kirche!“ „Begehrt sie das aus freiem Willen?“ „Es sei ihr Wille und ihr Wunsch!“ Wird sie dem Satan entsagen, all seinen Werken und all seiner Pracht? Annina bestätigt ihren Verzicht. Wie eingeübt wirft sie sich auf den nackten Fußboden und bildet mit den ausgestreckten Armen ein Kreuz. Die anwesende Nonne bedeckt sie mit einem schwarzen Tuch. Don Marco erklärt seinem Schützling, dass er nun für die Welt gestorben sei. Sie wird umgetauft und bekommt einen neuen Namen. Jetzt heißt sie nicht mehr Annina, sondern bis in alle Ewigkeit Angela. Nachdem sie aller Herrlichkeit dieser Erde entsagt hat, soll sein Kind sich erheben, denn nun ist es in Christo, unserem Herrn, neu geboren. „Ecce quam bonum et quam jucundum, habitare fratres in unum.“
In diesem Moment stürzt Michele ins Zimmer wird aber von Salvatore und einem anderen Mann zurückgehalten. „Annina, Annina!“ ruft er aufgeregt, aber Salvatore flüstert ihm ins Ohr: „Wenn Du dich ihr näherst, bringe ich dich um!“ Michel findet Fassung und Worte: „Höre Annina! Hör mich an! Wozu die Welt verlassen, die schon ganz ohne Liebe ist? Bedenke, Annina, noch ist es Zeit! Wozu Gottes Angesicht in einem trüben Spiegel suchen, wenn Du ihn in Deines Bruders brennendem Herzen finden kannst? Schau mich an, Annina! Besinne Dich! Wo das menschliche Elend am Ärgsten ist, dort scheint Gottes Güte am hellsten! Ich brauche Dich, Annina, meine Schwester. Ich brauche die ganze Liebe, die Du geben kannst.“
Es herrscht eine angespannte Stille, aber Annina rührt sich nicht. Don Marco erklärt Michel, dass er zu spät komme. Seine Schwester habe allen Eitelkeiten der Welt entsagt. Er schneidet ihr die langen Haare ab und legt die Pracht auf ein Tablett. Der Chor singt: „Veni columba mea. Flores apparuerunt in terra nostra!“ Michel, der sein lautes Weinen eingestellt hat, schaut wie betäubt der Vollendung des Zeremoniells zu. Die Nonne hat den weißen Schleier gegen einen schwarzen getauscht. Er ist das Symbol der Enthaltsamkeit, damit die neue Angela nicht vergisst, auf dem Pfad der Demut zu wandeln! Dann wankt das Mädchen in Verzückung auf Don Marco zu, doch die Kräfte verlassen sie und sie stürzt tot in seine Arme. Don Marco gelingt es aber noch, ihr den Arm hochzureißen und ihr den goldenen Ring an den Finger zu stecken, der Angela als Braut Christi ausweist, bevor sie in ihre zukünftige Welt hinübergleitet.
Letzte Änderung am 14.12.2012
Beitrag von Engelbert Hellen