Georg Friedrich Händel (1685-1759):
Richard der Erste, König von England / Richard the First, King of England / Richard Ier, Roi d'Angleterre
Anlass: | Thronbesteigung von König Georg II. |
Entstehungszeit: | 1727 |
Uraufführung: | 11. November 1727 in London (King's Theater) |
Besetzung: | Soli, Chor und Orchester |
Spieldauer: | ca. 180 Minuten |
Erstdruck: | London: J. Cluer, 1728 ? |
Verlag: | Leipzig: Deutsche Händelgesellschaft, 1877 New York: Kalmus, 1973 Kassel: Bärenreiter, 2005 Kassel: Bärenreiter, 2007 |
Opus: | HWV 23 |
Art: | Oper in drei Akten |
Libretto: | Paolo Antonio Rolli in Anlehnung an den Text von Francesco Briani |
Sprache: | italienisch |
Ort: | auf Zypern |
Zeit: | zur Zeit des dritten Kreuzzugs im 12. Jahrhundert |
Riccardo Primo: | Richard Löwenherz, englischer König (Countertenor) |
Costanza: | Prinzessin von Navarra (Sopran) |
Isacio: | Tyrann von Zypern (Bariton) |
Pulcheria: | seine Tochter, die „Maid von Zypern“ (Sopran) |
Oronte: | Verlobter Pulcherias (Countertenor) |
Berardo: | Diener Costanzas (Bariton) |
Zwei Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, wollte Heinrich Löwenherz, der erste Herrscher seiner Dynastie, gleichzeitig erledigen: die Einheimischen vom Heiligen Grab in Jerusalem vertreiben und die Prinzessin von Navarra heiraten. Doch er kam mit seinen Absichten nur bis Zypern, dann warf ein schwerer Sturm vor der Küste der Insel seine Kriegsflotte ans Ufer.
Costanza, eine geübte Schwimmerin - im Golf von Biskaya hatte sie diese Fertigkeit gelernt - konnte sich mit ihrem Diener Berardo ans Ufer retten. Von ihrem Verlobten Riccardo nimmt sie an, dass er den Schiffbruch nicht überlebt hat, weil seine schwere Rüstung - bestehend aus Helm, Kettenhemd Brustpanzer und Beinschienen - in denen er tagaus, tagein herumlief, ihn auf den Grund des Meeres gezogen haben könnte.
Die innige Beziehung, welche die beiden verbindet, ist noch frisch. Gesehen haben sie sich bisher auf Distanz. Ursprünglich hatten sie miteinander ausgemacht, dass er sie erst an ihrem Hochzeitstag am Heiligen Grab zu Jerusalem in ihrer ganzen Schönheit zu Gesicht bekommen solle. Deshalb verschleierte Costanza sich gemäß orientalischem Brauch, um dem Geliebten den Genuss ihres Anblicks vorerst vorzuenthalten, damit die Freude hinterher um so größer ist. Zudem ist Richards Blickwinkel auch sehr eingeengt, denn er läuft zum Schutz gegen Meuchelmörder die meiste Zeit mit heruntergeklapptem Visier herum. Von ihrer optischen Erscheinung hatte das Löwenherz aus den Berichten anderer schon gehört und fühlte sich daher vor bösen Überraschungen gefeit.
Isacio, der Tyrann des Inselreichs inspiziert mit seiner Tochter Pulcheria und ihrem Verlobten Oronte das Strandgut. Der Schleier, der sie ansonsten verdeckte, war davon geflattert, somit kann Costanza es nicht verhindern, dass Isacio ihre Schönheit begierig aufsaugt. Doch ihre Herkunft verrät das Mädchen klugerweise nicht und lügt, dass sie Doride heiße und ihr Begleiter ihr Bruder Narsete sei. Um sich ein bisschen in Szene zu setzen, weist der Beherrscher der Insel seinen Gefolgsmann Oronte an, die Reste der englischen Schiffe verbrennen zu lassen. Als Gäste lädt er die beiden Schiffbrüchigen aber großzügig in seinen Palast ein, um mit ihnen zu Abend zu speisen. Die übrigen können sehen wo sie bleiben.
Das Glück einer Einladung hat Riccardo nicht! Seinen Harnisch hatte er rechtzeitig von sich geworfen und konnte sich so ans Ufer retten. Ohne den Pomp einer Rüstung macht er einen etwas heruntergekommenen und zerzausten Eindruck. Der englische König hat keine Lust, in einem verlassenen Strandkorb zu übernachten und macht sich Gedanken, wie er unbemerkt in den Palast gelangen kann. Er erkennt den Diener und kombiniert, dass die Dame an seiner Seite folglich seine Verlobte sein muss. Die Flammen der Liebe züngeln gen Himmel, doch die Spielregeln und die Vernunft sehen vor, dass er seine wahre Identität als Monarch nicht offenbart.
Mit Verdruss stellt er fest, dass die beiden Gockel sich anzüglich gebärden und seiner Verlobten den Hof machen. Unvernünftige Eifersucht zur unpassenden Zeit macht sich bemerkbar! Hält Costanza es so mit der Treue, die sie ihm freiwillig geschworen hat? Doch Verrat an ihrer Liebe scheint nicht geplant zu sein, stellt Riccardo mit Genugtuung fest, denn vor bösartiger Annäherung weicht Costanza entsetzt zurück und bittet sich nachdrücklich aus, allein gelassen zu werden.
Jetzt ist es aber an der Zeit, dass Riccardo die Taktik wechselt. Seine Identität gibt er jedoch ebenfalls nicht preis und stellt sich als gestrandeten Botschafter des englischen Königs vor. Seinen ramponierten Aufputz kann er durch den erlittenen Schiffbruch glaubwürdig begründen. Isacio ist nicht permanent grausam, sondern hat auch Taktgefühl und lässt die Gestrandeten allein, damit sie sich austauschen können.
Costanza beauftragt ihren Diener, bei dem angeblichen Botschafter unauffällig herauszufinden, ob der König den Schiffbruch mit heilen Knochen überstanden hat. Isacio hat die beiden belauschen lassen und besitzt nun alle Informationen, die er zum zielgerichteten Intrigieren braucht. Costanza sagt er auf den Kopf zu, dass er wisse, wer sie sei und verspricht ihr, sie in Kürze mit ihrem Gatten zu vereinigen - mit welchem Gatten, das sagt er natürlich nicht. Seine Pläne sind gewagt und hochtrabend. Der Tochter befiehlt er, sich darauf vorzubereiten, einen Monarchen zu heiraten. Es sei eine große Ehre, sich als Königin von England zu fühlen, denn Eleonore von Aquitanien werde ihre zukünftige Schwiegermutter sein. Er habe ausschließlich ihr Wohlergehen im Sinn und sie soll den lieben Vater die Fäden spinnen lassen, so wie es ihm gefällt, ohne ihm in den Rücken zu fallen. Sie möge bitte beginnen, Französisch zu lernen, denn die englischen Sprachkenntnis Riccardos seien unzulänglich, weil er Kindheit und Jugend unmittelbar nördlich der Pyrenäen verbracht habe.
Pulcheria soll Oronte einen Tritt versetzen. Sie verspricht, ihn unverzüglich zu verlassen, denn er hat sie geärgert. Doch wieder allein in ihrer Kemenate, kommen ihr Gewissensbisse, ob es noch anständig sei, die Jasminblüte, die ins Gras gefallen ist, hereinzulegen und gelobt, den Schwindel vorzeitig aufzudecken. Berardo hat aus seinem Versteck heraus alles mit angehört, erzählt es seiner Herrin und flüstert auch dem Oronte, mit dem er sich angefreundet hat, dass Schmach auf ihn warte. Costanza kann es nicht erwarten, dass der Bräutigam zu ihr kommt, während Oronte an bitterböse Vergeltung denkt.
Riccardo plagt ebenfalls die Unrast und er will nicht länger seinen eigenen Botschafter spielen. Die versprengte Besatzung hat er am Strand eingesammelt. Isacio hat ihm eingeredet, dass seine Hochzeit besser auf Zypern stattfinden sollte und er ihm die Ausrichtung einer angemessenen Feier mit Hochzeitsballett und Kuchen sowie einem großen zeremoniellen Empfang garantieren kann. Eine Eheschließung am Heiligen Grab wäre natürlich auch sehr stimmungsvoll, aber er solle bitte mögliche Tumulte und Störmanöver der feindlich gesonnenen Mamelucken und sonstiger Völkerschaften nicht außer Acht lassen. Wenn der Gute wüsste, dass ihm statt Costanza die verschleierte Pulcheria zugeführt werden soll, wäre er genau so wütend wie Oronte. Der Vermählungsbereite hat natürlich keine Ahnung von den Verwechslungsspielchen einer Barockoper.
Riccardo würdigt zwar die Schönheit seiner Gemahlin, die ihm angetraut werden soll, schätzt Bescheidenheit und Anmut, vermisst aber Charisma und angeborenen Stolz, den eine englische Königin theoretisch haben sollte. Der Geistliche hat Gottes endgültige Einwilligung noch nicht herbeigebetet, als Oronte ob des Betrugs der Kragen platzt. Er enthüllt vor der Hochzeitsgesellschaft die Gemeinheit, die man gegen ihn im Schilde führt. Pulcheria beschuldigt ihren Vater, dass dieser sie zu unentschuldbarem Verhalten verleitet habe. Nach des Königs Abreise mit seiner Braut würde Isacio die Tochter nun nach Landessitte ganz furchtbar verprügeln. Deshalb will Pulcheria Zypern verlassen und bittet die fremde Prinzessin, als Hofdame nach Jerusalem mitreisen zu dürfen, weil Berardo nicht in der Lage sein dürfte, die weiblichen Handreichungen einer Brautjungfer zu erfüllen.
So schnell lässt Riccardo sich nicht umstimmen; üble Ränke, die man mit ihm im Sinn hatte, will er nicht durchgehen lassen. Das Recht der elterlichen Gewalt liegt durchaus beim Vater, und wenn es diesem gefällt die Tochter wegen Unbotmäßigkeit zu züchtigen, ändert das die Legalität nicht. Pulcheria zeigt sich Oronte unverständlicherweise plötzlich abgeneigt und will plötzlich nichts mehr von ihm wissen, was ihr die Kritik ihrer Umgebung einbringt.
Oronte bietet an, aus eigenen Beständen das reduzierte militärische Gefolge Riccardos zu verstärken und in Limassol auch ein Schiff bereitzustellen - wenn der unerwünschte Nebenbuhler möglichst schnell aus Zypern verschwindet. Der Enttäuschte setzt darauf, dass Pulcheria von ihrem Ehrgefühl gesteuert zu ihm zurückfinden wird. „Die Maid von Zypern“ hat ihr Gefühl für Sitte und Anstand neu zurecht gerückt und stellt ihre frischgebackene Freundin Costanza dem erwählten Bräutigam in aller Form vor. Die Genannte entschließt sich, den dummen Schleier, der einem zünftigen Liebesduett entgegensteht, endlich abzulegen. Das begeisterte Publikum lauscht ihren innig überschwänglichen Gefühlen und versetzt sich in die Situation des emotionsgeladenen Liebespaars. Theoretisch wäre das Ende der Oper jetzt erreicht, aber der Librettist ist mit dem Intrigenspiel noch nicht fertig.
Sie Liebenden beschließen, keine Minute länger im Palast zu verweilen als unbedingt nötig und wollen sich klammheimlich davon machen. Doch wie will man von einer Insel entkommen, wenn das Festland in weiter Ferne liegt? Wird ein Handelsschiff zufällig vorbei gleiten, ein Rettungsboot aussenden, um die Gestrandeten an die Gestade Palästinas bringen?
Der Obereunuch ist den Fußspuren der beiden mit der berittenen Palastwache gefolgt. Gewaltsam wird Costanza von Riccardos Seite gerissen und in den Harem zurückgeschleppt. Isacio hatte von Anfang an ein Auge auf das Mädchen geworfen und seine hartnäckige Werbung wird nach der Flucht nun aggressiver, weil er ihren Widerstand für eine Laune hält. Doch Oronte hat mit dem Tyrannen noch eine Fehde auszutragen, der sehr zu seinem Nachteil seine Verlobte anderweitig verschachern wollte. Er verbindet sich mit Riccardo und seiner versprengten Ritterschaft mit dem Ziel, den aufdringlichen Bewerber militärisch zu besiegen und Costanza aus ihrer widrigen Lage zu befreien.
„Morte vieni!“ Zu Tode betrübt sitzt im Palast die doppelt Umworbene, beklagt ihr Unglück und sehnt sich nach dem erlösenden Tod. Pulcheria tröstet die Freundin, denn sie ist zuversichtlich und malt sich aus, dass die verfolgte Unschuld, der Oronte gefälligerweise seinen starken Arm leiht, siegen werde. In der Tat fühlt sich Costanza aufgemuntert und bombardiert den Himmel anhaltend mit ihren Gebeten. Isacio offenbart seiner Gefangenen die Tiefe seiner Liebesgefühle, die man als durchaus ernst gemeint bewerten kann. Seine Entschlossenheit, das Mädchenherz umzustimmen, stößt aber zur Zufriedenheit des Publikums im Parkett und auf den Rängen auf hartnäckige Widerspenstigkeit. Der neue Freier gefällt nicht, weil ein anderer vor ihm das Rennen bereits gemacht hat. Weshalb ist es so schwer, eine Niederlage zu begreifen?
Von Oronte geschickt, verlangt Berardo mit Nachdruck die Aufgabe der Festung, stößt aber ob seiner Anmaßung auf Hohn und Uneinsichtigkeit des Zyprioten. Die niedergedrückte Costanza lässt dem Verlobten durch ihren Diener ein letztes Lebewohl übermitteln, denn mit dem Leben hat sie, wie das Publikum meint, völlig übereilt abgeschlossen.
Doch inzwischen hat die vereinte Streitmacht von Oronte und Riccardo eine Bresche in die Mauer geschlagen und die Mutigen sind bis zum Thronsaal vorgedrungen. Isacio schickt sich an, die geliebte Costanza als Schutzschild benutzen, um wegen der Aussichtslosigkeit seiner Werbung dem geliebten Wesen den Dolch in den zarten weißen Körper zu versenken. Doch Oronte ist schneller und gewandter als der Alte und hält ihn umklammert, bis Costanza entwischen und sich in die Arme des zur Hilfe geeilten Riccardo stürzen kann. Pulcheria denkt nun praktisch und wendet sich Oronte wieder in Liebe zu, denn der englische Thron, von dem ihr Vater ihr vorschwärmte, ist ins Abseits gerückt.
Wem gehört nun das Königreich Zypern, nachdem der Tyrann unschädlich gemacht und abgesetzt wurde? Natürlich Riccardo und Costanza! Triumphmarsch und Jubelchor bestätigen es!
Zur Thronbesteigung des englischen Königs Georg II. war als Festakt die Uraufführung einer Krönungsoper vorgesehen. Gab es jemanden, der geeigneter gewesen wäre als der „caro Sassone? Erst kürzlich war dem Deutschen aus Halle an der Saale die britische Staatsbürgerschaft verliehen worden und Georg Friedrich Händel erwies sich der Ehre würdig, favorisiert worden zu sein.
Was wäre als Vorlage geeigneter, als die Biographie des ersten englischen Königs, der allerdings Normanne war und französisch sprach. Unter dem Namen Richard Löwenherz verbirgt sich der Mythos eines Helden, der insbesondere wegen seiner Grausamkeit und Mordlust eigentlich ein kleines Scheusal war. Die Geschichtsschreibung der Gegenwart entlarvt ihn als Pechvogel und grausamen Tyrannen, dem der dritte Kreuzzug aus dem Ruder lief. Seine Mutter, Eleonore von Aquitanien, schickte hin und wieder eine Karosse mit eingesammeltem Lösegeld nach Österreich auf die Reise, die ihr Ziel aber nie erreichten und unterwegs ausgeraubt wurden.
Nun, der „caro Sassone“ und auch sein Librettist Paolo Rolli waren so klug, nur eine Episode des heroisierten Königs zu erfassen und lediglich einen kleinen Ausschnitt seiner Biographie zu nutzen, soweit dieser den Bedürfnissen einer Barockoper nach Liebesabenteuern und Verkleidungsszenen entgegenkam. Das Libretto „Isacio tiranno“ war von Antonio Lotti schon einmal vertont worden, so dass Händel der Dramaturgie Francesco Brianis nahtlos folgen und sich ganz auf die Sensibilität eigener Musik einstellen konnte. Zwei Kastraten, und zwei Primadonnen wurden mit Bravourarien nach dem Prinzip der Ausgewogenheit reichhaltig ausgestattet und auch die tiefe Männerstimme bekam Gelegenheit, seinem Rollenklischee gerecht zu werden.
Obwohl Berengaria von Navarra sich in der Oper Costanza nennt und das Schicksal von Isaak Komnenos jedenfalls genau so abenteuerlich verlief, wie das des Löwenherzen, ist der Opernbesucher schon dankbar, dass ein gewisser Wiedererkennungswert mit den historischen Akteuren sich doch nicht ganz verleugnen lässt. Richards Charakter wird nicht maßlos diabolisiert, sondern in Anlehnung an die zeitgemäße Belletristik verherrlicht, so wie es auch einer Krönungsoper zu passen kommt. Kleine Ungereimtheiten in den Begebenheiten und Zeitabläufen der Episode, ist der Theaterbesucher genötigt zu verzeihen.
Die Aufführung am 11. November 1727 lief nicht ganz reibungslos ab. Die beiden weiblichen Hauptdarsteller Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni rivalisierten heftig miteinander und pflegten die Gewohnheit, sich auf offener Bühne zu beschimpfen und zu prügeln, doch der Deutsche verschaffte sich den nötigen Respekt und verstand es zu besänftigen.
Der belgische Komponist André-Modest Grétry vertonte fünfzig Jahre später jenen Lebensabschnitt von „Richard Coeur de Lion“, als er nach seiner Heimkehr aus dem Heiligen Land in die Gefangenschaft der Staufer geriet und durch die List seines Troubadours Blondel befreit wurde.
Dem Opernbesucher fällt es nicht schwer, den Riccardo Primo wegen der Ausgewogenheit an Innigkeit und Opulenz sowie einer halbwegs plausiblen spannenden Handlung in die vorderste Reihe der Händel-Opern zu stellen.
Letzte Änderung am 19.9.2011
Beitrag von Engelbert Hellen