Charles François Gounod (1818-1893):
Sappho / Sappho
Entstehungszeit: | 1850-51, rev. 1884 |
Uraufführung: | 16. April 1851 an der Pariser Opéra 2. April 1884 an der Pariser Opéra (Neufassung) |
Besetzung: | Soli, Chor und Orchester |
Spieldauer: | ca. 120 Minuten |
Erstdruck: | Paris: Choundens, 1860 |
Art: | Oper in drei Akten |
Libretto: | Émile Augier nach der griechischen Antike |
Sprache: | französisch |
Ort: | Olympia |
Zeit: | während der XLVI. Olympischen Spiele (6. Jahrhundert vor Christus) |
Sapho: | Dichterin (Mezzosopran) |
Alcée: | Sänger (Bariton) |
Phaon: | Revolutionär (Tenor) |
Glycère: | (Sopran) |
Pythéas: | (Bass) |
Cygénire: | Le grand Prêtre (Bass) |
Olympia erfreut den Jupiter mit heiligen Spielen. Als Belohnung soll der Beherrscher des Olymps dem Genius die Palme der Unsterblichkeit zuerkennen. Bei der Preisvergabe, so fordert es der Opernchor, habe sich der Olympier mit seiner Protektion korrekt zu verhalten. Der Gottlose darf nicht triumphieren und der Tapfere nicht Schmach erleiden.
Der Rivale, der am Hals gepackt wurde, wird es ein Leben lang nicht vergessen. Honig und Gerste werden für denjenigen gemischt, der in drei Wettkämpfen gesiegt hat. Nicht allein die starken Arme sind gefordert, sondern auch die edlen Verse und die schöne Stimme. Glücklich darf sich derjenige schätzen, den die Menge bestaunt und dessen Name im Himmel gepriesen wird. Der Chor steigt die Stufen empor und schreitet in die Tempelhalle.
Phaon wirkt bedrückt und hat sich von der Masse isoliert. Pythéas foppt ihn und fragt, ob er ein zaghafter Liebhaber sei. Für gewöhnlich halten diese sich der Menge fern, weil geheimer Kummer sie quält. So verhält es sich nicht, entgegnet der Provozierte, man schreitet mit gesenktem Haupt, wenn man in seinen Gedanken die Freiheit des Volkes und den Tod des Tyrannen herbeisehnt. Pythéas erklärt, dass er den bösen Pittakos auch nicht leiden kann und die gleichen Wünsche hege.
Phaon soll nicht ablenken. Glycère und Sapho streiten sich, ihn als Schatz an ihrer Seite zu haben. Die erste hat es geschafft, und die Nebenbuhlerin bemüht sich. Glycère bietet Schönheit und die andere hat Genie. Beides kann Phaon nicht koordinieren, und das bringt ihn um den Verstand. Pythéas hat die Wahrheit erraten, doch der Gefährte will es nicht zugeben.
Tatsächlich steht Phaon vor einer schweren Entscheidung. Die betörenden Schultern unter dem Hals von Glycère kann er nicht vergessen und die zarte Stimme ebensowenig. Jedoch viele tausend Liebhaber erinnern sich der reizenden Glycère. Saphos Formen sind profaner Natur, und er rätselt, welch geheimnisvoller Zauber es sein könnte, der ihn umfangen hält. Sind es die leuchtenden Augen, aus denen ihre himmlische Seele zu ihm spricht? Oder ahnt er bereits, dass sie zu olympischem Ruhm aufsteigen, der seinen Namen mit einschließen wird. Wenn Sapho vorbeigeht, jubelt das Volk, denn sie und ihre Mädchenschule sind prominent. Die nackten Füßchen von Glycère finden keine Beachtung, ebensowenig die rosenroten Wangen, selbst wenn sie geschminkt sind.
Der Gott, den Delos verehrt, hat Sapho bei ihrer Geburt liebkost. Gegrüßt sei die Muse von Lesbos! Im Wettkampf wird Alcée ihr Rivale sein. Die Mädchen ihres Konservatoriums leisten der Vorsteherin Beifall und machen schon im Vorfeld für sie fleißig Reklame. Phaon kommt von der gleichen Insel, und die beiden finden sich zur Konversation. Er übertreibt und behauptet, dass ihm die Sinne vergehen, wenn er ihre Nähe spürt. Als seine Seele bezeichnet er sie! Sapho hört es gern.
Glycère hat den verbalen Schwachsinn am Rande mitbekommen und tadelt, dass Phaon sich von ihr fernhalte. Sie fühlt sich vergessen und argwöhnt, dass eine andere den Platz in seinem Herzen erobert hat.
Sapho, die sich in den Dialog einmischt und ziemlich ungeschickt agiert, wird von Glycère zurechtgewiesen. Auch wenn sie nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehe und wie unbedeutend sie auch immer sein mag, wird sie es nicht dulden, dass ihr der Liebste eine andere zur Rivalin gibt und sei es Venus selbst. Phaon meint, dass sie den Stellenwert ihrer äußeren Reize überschätze. Glycère bedeutet ihm, dass Schönheit der Liebe mehr förderlich sein würde als die Muse der Dichtkunst, im Zweifelsfall ihr zumindest aber gleichzusetzen sei. Sapho hat die Vorstellung, wenn sie erst die Siegespalme in Händen hält, wird das Herz des Geliebten ihr ohnehin gehören.
Der Wettstreit in Sachen Musik und Dichtkunst beginnt, und man begibt sich in den Tempel. Alcée, der scharfzüngige Satiriker und Feind aller Tyrannen hat den Vortritt. Er hat sich eine Taktik zurechtgelegt, die ihm zum Verhängnis wird. Anstatt die Menge mit dem Zauber harmonischer Verse einzufangen, preist er mit männlich rauem Ton die Hände, die zugunsten des stöhnenden Volkes das Blut von Tyrannen vergießen. Vor dem Altar des Jupiter tönt sein Heldenbariton, dass in Ermangelung von Schwertern das Volk seine Ketten gegen die Unterdrücker schwingen soll. Der Pöbel ist begeistert und wünscht der Tyrannei den Untergang. In seiner Einfalt spricht der Sänger nach seinem Vortrag den Phaon in Sachen Umsturz lautstark an. Solcher Unverstand bringt den Revolutionär in arge Verlegenheit, da nun offenbar ist, was noch geheim bleiben soll.
Doch der Herold ruft jetzt dreimal nach Sapho. Zur Stelle, besingt die Dichterin die Geschichte eines mutigen Sportlers: Hero lebt in einem Wohnturm und atmet die Kühle des Meeres. Sie wartet auf Leander, der zu nächtlicher Stunde durch den Kanal schwimmen muss, um zu ihr zu gelangen. Das Meer ist breit und tief, und Hero denkt schon, dass er nicht kommen wird oder gar von einem gefräßigen Fisch in die Tiefe gezogen wurde. Doch plötzlich sieht sie seinen wallenden blonden Haarschopf über den Wogen, und der starke Bezwinger der Wellen klettert ans Ufer und schließt die ungeduldig Wartende in seine Arme. Dem Volk gefällt das Lied, welches Sapho mit ihrer Lyra kunstvoll begleitet hat, so gut, dass sie die Siegespalme bekommt. Weitere Kandidaten, bereits in der Vorrunde ausgeschieden, werden nicht mehr gehört. Für den ruhmsüchtigen Phaon ist die Entscheidung gefallen. Die Erfolgreiche wird in seinem Herzen die Vorgängerin ablösen. Die Tochter des Apoll hat gesiegt!
Bacchus will den Menschen, welche die Last der betrübten Tage beklagen, eine Stunde der Göttlichkeit schenken. Das süße Geheimnis des Weins hat Phaon entrückt, und er überlegt: Wenn das, was man sieht, nicht mehr die Welt ist, muss es der Himmel sein.
Alcée will zur völlig unpassender Zeit über ernste Dinge reden, und der angetrunkene Phaon soll deshalb seine Sklaven fortschicken. Die Verschwörer planen, den bösen Pittakos auf radikale Art gewaltsam aus seinem Amt zu entfernen. Sie entwerfen eine Proklamation, die öffentlich ausgehängt werden soll. Alle Verschwörer sollen unterschreiben, und wehe dem, dessen Hand zittert. Der wenig engagierte Pythéas unterschreibt nur zum Schein und kalkuliert, dass der Tyrann bereits tot sein wird, bevor die Proklamation an seine Ohren dringen kann. Ihm ist die Aufgabe zugefallen, das Dokument zu vervielfältigen.
Nun wird geschworen! Schande über denjenigen, der seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Entweder die Freiheit wird gewonnen oder man stirbt gemeinsam! Anschließend gehen die Konspiranten in den Garten, um weitere Einzelheiten zu besprechen. Unter blühenden Myrten und Lorbeerbäumen wollen die Freunde wandeln, der Gefahr zum Trotz.
Glycère ist neugierig und will von Pythéas wissen, was geredet wurde und vor allem, wie es dem Liebespaar geht. Mit ganzer Leidenschaft will sie sich rächen, und das Großmaul Pythéas verspricht der Erzürnten seine Unterstützung, wenn sie nett zu ihm ist. Das wäre Rache an ihm, aber nicht an ihr. Sie schmeichelt ihm und lobt seine Kühnheit, eine Eigenschaft, die er gar nicht hat, aber gern mit ihr glänzen möchte. Glycère bringt ihn dazu, das Komplott aufzudecken. Schon morgen soll Pittakos sterben, und ihm selbst wird Gelegenheit geboten, seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen, allerdings soll den Todesstreich Phaon führen. Glycère kann es nicht glauben, bis Pythéas ihr das Schriftstück zeigt. Eine Kleinigkeit für die Intrigantin, dem Angetrunkenen das Original abzuschwatzen. Auf die Belohnung muss er allerdings ein bisschen warten. Er soll aber schon jetzt den Dreifuß anzünden und die Fenster schließen. Sobald die Nacht anbricht, wird sie in Rosenfarbe gekleidet auf Zehenspitzen zu ihm schleichen. Lebe wohl, süßes Geheimnis!
Sapho erklärt ihren Schwestern, dass die Zeit verschwendet ist, die ohne Liebe zerrinnt, weil das Leben nur kurz ist. Die Dienerin meldet der völlig überraschten Dichterin den Besuch von Glycère.
Die Schlange bewundert die luxuriös ausgestattete Wohnung und setzt ihre Worte sorgfältig. Phaon sei überaus großzügig zu Sapho, aber noch mehr zu ihr, denn sie habe er im Säulengang mit Gold überhäuft, als sei er ein großer König. Sapho, die nicht weiß, auf was die Besucherin hinaus will, betont, dass sie diejenige ist, welcher er seine Liebe schenkt. Dann muss es sich wohl so verhalten, dass ihr Herz - ein Sturzbach der Gefühle - hinweggerissen ist vom Überschwang des Glücks. So verhält es sich!
Glycère wird unmissverständlich: Phaon hat zwei Möglichkeiten: entweder muss er sterben oder seine neue Liebe verlassen. Dann wird er wohl sterben müssen, meint Sapho ironisch. Glycère behauptet, sie besitze ein Dokument, welches Verbannung oder Tod bringt; wohl verwahrt liegt es bei ihr zu Hause. Dem Tyrannen wird man das Komplott verraten, wenn man nicht innerhalb einer Stunde ihren Wünschen folgt.
Phaon soll doch herkommen und sich erklären. Sie möchte wissen, was Glycère bezwecken will. Phaon soll verschwinden, entweder nach Athen oder nach Sparta. Glycère lässt Sapho beim Styx schwören, dass sie ihm nicht folgen und kein Sterbenswörtchen ihrer Unterredung jemals an Phaon verraten wird. Glycères Hass ist grenzenlos. Sie aus der Heimat zu verbannen, sei viel zu wenig, entrüstet sich Sapho, das Herz möchte sie ihr am liebsten herausreißen.
Die Gedemütigte kann ihre Erregung nicht verbergen und sagt ihr, dass sie sich wegscheren soll. Der Welt soll sie sich als eine Frau vorstellen, die so unerbittlich ist, dass sie ohne Hemmung den Mann opfert, den sie angeblich liebt. Glycère lässt sich von ihren Vorwürfen nicht beeindrucken, kündigt an, zu Pittakos gehen zu wollen, und bewegt sich langsamen Schrittes aus dem Haus.
Wie können die Götter ein solches Ungeheuer am Leben lassen, verzweifelt Sapho. Der Besiegten sei es erlaubt zu schmähen! Glycère versucht sogar, ihre Maßnahme moralisch zu rechtfertigen und argumentiert geschickt. Die Situation ändert sich abrupt - Phaon steht plötzlich in der Tür. Glycère läuft auf ihn zu. Die Verschwörung sei entdeckt, die Bestrafung naht. Sie sei gekommen, um seinen Kopf zu retten. Ein unerwarteter Schlag, von wem kommt er? Pythéas habe alles verraten, lügt die Intrigantin. Noch heute Abend will er das Dokument dem Pittakos übergeben. Phaon soll keine Zeit mit überflüssigen Reden verbringen und sich zur Flucht beeilen.
Sapho will nicht mitkommen. Sie weiß, dass Phaon sein Leben verlieren wird, wenn sie darauf besteht, an seiner Seite zu bleiben, und übt Verzicht. Glycère zieht ihre Intrige bis zum Schluss durch. Phaon ahnt, dass Ränke im Spiel sind, kann das Knäuel aber nicht entwirren. Sapho erklärt, dass sie ihn nicht mehr liebe, alles ein Missverständnis sei und muss sich von Glycère noch verhöhnen lassen. Niedergeschmettert bleibt Sapho zurück, als die beiden das Haus verlassen. Seine zärtliche Liebe verliert sie, und sein Herz nimmt er zurück. Zum Abschied schenkt er ihr Vergessen. Nicht zu fassen!
Phaon hat sich auf den Weg in die Verbannung begeben und wartet am einsamen Meeresstrand auf das Schiff und die Gefährten, die genötigt sind mitzukommen. Im Irrgarten der Gefühle freut es ihn, das Land zu verlassen, in dem die treulose Geliebte atmet. Es bricht ihm das Herz, und er gedenkt der Glückseligkeit, der soviel Unglück folgte. Er gäbe sein Leben, wenn er sie noch einmal sehen könnte. Ein einziger Blick der Grausamen würde die Verbannung erleichtern. Der Strand ist leer und nichts antwortet seinen Seufzern. Er hört nur den Lärm der Wogen, die ihn an fremde Gestade tragen werden. Von den Menschen oder von den Göttern erwartet er nichts mehr.
Gegen alle Regeln der Dramaturgie tauchen plötzlich die Akteure auf, die der Opernbesucher aus den beiden vorangegangenen Akten schon kennt. Sie wollen den Trübsinnigen begleiten, denn auch für sie hat die Heimat ihren Reiz verloren, wenn er weg ist. Wer ganz vorsichtig geschlichen kommt ist Sapho, die sich zur allgemeinen Verwunderung hinter einem Felsen versteckt und die Absicht hegt, sich umzubringen. Sogar Glycère ist anwesend und lässt es sich nicht nehmen, Phaon zu tadeln, weil er die Verflossene immer noch liebt und es ihm nicht einfällt, sie zu vergessen.
Neu im Personenkreis ist ein Hirte, der seine Ziegen ermahnt, den Thymian zu weiden und auch die übrigen wilden Kräuter als Nahrung nicht zu verschmähen. Er freut sich noch immer, dass Aglaia mit den blonden Haaren am frühen Morgen seine Lippen auf die seinen gedrückt hat. Jetzt soll Venus sich erheben, damit am Abend das gleiche noch einmal geschieht.
Sapho hat mit dem Leben abgeschlossen und erinnert sich nicht mehr, wo sie ist. Mit düsterem Blick fixiert sie den Felsen, von dem sie sich zu stürzen gedenkt. Was ihr bleibt, ist die ewige Nacht, die ihrem erschöpften Herzen Ruhe geben kann.
Bevor es so weit ist, erinnert Sie sich an Herrn Gounod, der eine wunderschöne Arie komponiert hat, die ihr die letzten Momente ihres Erdendaseins noch versüßen soll. Abschied wird Sapho nehmen von ihrer unsterblichen Lyra. In all ihrem Unglück wurde sie immer von ihr getröstet, und ihr sanftes Raunen ermöglichte ihr alle Schmerzen zu ertragen. Nun wirft sie das Saiteninstrument in die Wogen, damit Archäologen und Schatzsucher es eines Tages finden. Das Meer öffnet seinen unheilvollen Schlund, um die Nacheilende zu vertilgen.
Angeregt zur Schaffung seiner ersten Oper wurde Charles Gounod durch die berühmte Primadonna Pauline Viardot, die auch in der Premiere in der Titelpartie glänzte. Mit seiner Mutter weilte der Komponist zeitweise auf ihrem Landgut und konnte sich dort hingebungsvoll seinem Schaffen widmen.
Mit dem Librettisten Émile Augier hatte er einen guten Griff getan. Seine Verse sind vorzüglich und der dramatische Ablauf der Handlung logisch und konsequent in den beiden ersten Akten. Das letzte Bild wirkt überstürzt zusammengewürfelt und ist ein bisschen kurz geraten. Hier legt sich jedoch der Komponist mächtig ins Zeug und kann mit einem bombastischen Finale aufwarten. Fast jede Mezzosopranistin möchte die ‚unsterbliche Lyra’ besingen, um sich anschließend nicht vom Felsen, sondern in den rauschenden Applaus des Publikums zu stürzen.
Die Oper, der man stilistisch Gluck-Nähe nachsagt, erhielt anfangs nicht den Beifall, der ihr gebührt, und Gounod fühlte sich bemüßigt, eine Neufassung herauszubringen, die am 2. April 1884 an der Pariser Oper in Szene ging.
Angemerkt sei noch, dass die Dichterin Sappho aus Lesbos historisch nicht identisch mit der Person ist, die sich aus Liebeskummer vom Felsen stürzt. Der italienische Komponist Pacini erzählt die Geschichte der Sappho wiederum völlig anders, und bei Jules Massenet ist es rein zufällig der Name einer zeitgenössischen Kurtisane.
Letzte Änderung am 12.12.2006
Beitrag von Engelbert Hellen