Michail Iwanowitsch Glinka (1804-1857):
Iwan Sussanin / Ivan Susanin / Ivan Soussanine
Untertitel: | Schisn sa zarja (Жизнь за царя) |
Untertitel : | Ein Leben für den Zaren |
Untertitel : | A Life for the Tsar |
Untertitel : | Une vie pour le tsar |
Entstehungszeit: | 1834-36 |
Uraufführung: | 27. November 1836 in St. Petersburg |
Besetzung: | Soli, Chor und Orchester |
Verlag: | München: Musikproduktion Höflich, 2007 |
Art: | Oper in vier Akten und einem Epilog |
Libretto: | Sergej Gorodetzkij nach Wassilij Shukowski und Baron Georgij von Rosen |
Sprache: | russisch |
Ort: | das Dorf Domnino in Mittelrussland, das königliche Schoss in Polen, das Finale in Moskau |
Zeit: | 1612 |
Iwan Sussanin: | ein leibeigener Bauer |
Antonida: | seine Tochter |
Bogdan Sobinin: | ihr Verlobter |
Wanja: | ein Waisenknabe |
Sigismund III.: | König von Polen |
Kusmja Minin: | Widerstandskämpfer (stimmlich nicht präsent) |
Weitere: | Dorfbewohner, Ballgäste und weitere |
In heutiger Zeit ist es kaum vorstellbar, dass vor vierhundert Jahren die Russen sich der Polen im eigenen Land erwehren mussten. König Sigismund steht mit Heeresmacht vor Moskau und möchte sich die Zarenkrone aufsetzen, die kurz zuvor noch Boris Godunow getragen hatte. Aufruhr bemächtigt sich des russischen Volkes und die jungen Leute werden zum Kriegsdienst eingezogen. Grenzenloser Patriotismus und unglaublicher Heldenmut haben es einer schnellen Eingreiftruppe ermöglicht, den Polen eine Niederlage beizubringen. Antonida die schöne Tochter des Bauern Iwan Sussanin, erwartet voller Sehnsucht ihren Verlobten Sobinin zurück, damit endlich geheiratet werden kann. Doch dieser Herzensangelegenheit kann Iwan sein Einverständnis nicht erteilen. Persönliches Glück muss zurückstehen, solange das Land unter dem Joch der Fremdherrschaft zu leiden hat. Gerüchten zufolge sind die barbarischen Polen in Moskau eingefallen und haben die Stadt geplündert. Doch Sobinin, vom Gemetzel verschont geblieben, ist ins Dorf Domnino zurückgekommen und kann voller Stolz verkünden, man habe die Polen in die Flucht geschlagen, gelaufen seien sie wie die Hasen. Nun lässt das liebende Vaterherz sich doch erweichen und stimmt der Hochzeit zu. Seine Autorität muss sich gegen den Opernchor durchsetzen, denn dieser empört sich und fragt „Wer denkt jetzt an Hochzeit?“
Den Polenakt hat Michail Glinka instrumental mit einfach gehaltener Melodik ausgiebig ausgestattet. Man kann daraus schließen, dass der Komponist gegen seinen Grenznachbarn keine Vorbehalte hatte, denn er greift tief in die polnische Folklorekiste. Die Tanzlust beginnt mit einer festlichen Polonaise, ihm schließt sich ein Krakowiak an, danach tanzt das Ballett zum Walzerrhythmus einen Pas de quatre und anschließt huldigt man der Mazurka. Wenn der Polenchor nun die Gäste auffordert: „Schenkt ein, trinkt Wein“ lässt das nicht unbedingt auf Dekadenz schließen, denn in Sankt Petersburg fließt der Krim-Sekt in Strömen. Doch was suchen die Polen und die mit ihnen verbündeten Deutschritter jenseits der Landesgrenzen überhaupt? Die adeligen Damen schwärmen von Perlen, Seide, Biberfällen und Malachit. Dinge, die nicht sorgfältig behütet werden, muss man doch nicht kaufen, man kann sie sich bequem holen. Doch so einfach liegt die Sache nun wieder auch nicht. Das Fest und die Ausgelassenheit sind auf ihrem Höhepunkt angelangt, als ein Bote schweißgebadet den Thronsaal stürmt. Gut kann die Nachricht nicht sein, die er bringt. Nun, er soll erzählen. König Sigismund selbst neigt sich huldvoll zu ihm herab und fragt in aller Unschuld: „Was bringst du?“
Das Schicksal eines Waisenkindes ist immer traurig, doch Wanja hatte das Glück, bei Iwan Sussanin ein neues Zuhause zu finden. Der frühe Tod hatte die Mutter hinweg gerafft, nun kümmert sich Antonida liebevoll um ihn. Dem aufmerksam Zuhörenden erzählt sein Pflegevater von geheimen militärischen Aktionen im Untergrund. Die Räumlichkeiten eines Klosters nutzt der tapfere Widerstandskämpfer Kusmja Minin aus Nowgorod, um Gleichgesinnte um sich zu sammeln. Es ist ihr Plan, die Polen vernichtend zu schlagen, um sie für alle Zeiten aus dem Lande zu vertreiben. Wanjas Wellen der Begeisterung schlagen hoch und er kann es nicht erwarten, alt genug zu sein, um sich der Befreiung des Vaterlandes tatkräftig anzuschließen.
An der Vorbereitung zur Hochzeit nehmen die Bewohner des kleinen Dorfes regen Anteil und schmücken das Haus. Das junge Paar, der Brautvater und der Knabe schwärmen im Quartett von dem Glücksgefühl, welches sich im Hinblick auf die bevorstehende Vermählung einstellt. Sobinin findet, dass zu wenig Gäste eingeladen wurden und verlässt das Haus, um auch den benachbarten Weiler über das Familienfest zu informieren. Die übrigen bleiben zurück, um die Vorfreude noch ein bisschen auszukosten.
Doch dann schlägt das Schicksal zu. Polnische Soldaten dringen in das Haus ein und verlangen von Sussanin, zu dem Rebellenführer geführt zu werden. Nur der Teufel weiß, welcher Vaterlandsverräter ihnen geheime Informationen zugespielt hat. Den Fragestellern gibt der Bedrängte sich zunächst unwissend und wendet alle List an, die feindliche Gesellschaft von ihrer Haltung abzubringen. Er lädt sie zur Hochzeit ein, doch der Anführer lässt sich nicht bluffen und versteift sich darauf, dass Iwan das Versteck Kusmja Minins verraten soll. Es gelingt Sussanin durch Blickkontakt und Zeichensprache dem aufgeweckten Wanja zu signalisieren, dass er sich heimlich aufmachen und die Freunde vor der drohenden Gefahr warnen soll.
Mit dem beklemmenden Gefühl, dass er nicht wieder zurückkehren wird, wenn die Polen herausbekommen, dass er sie narren will, verabschiedet sich Sussanin von seiner Tochter Antonida und verlässt niedergedrückt das Haus in Begleitung seiner Entführer. Nichtsahnend erscheinen fröhliche Dorfmädchen und erfahren von der bestürzten Antonida, dass sich soeben Schicksalhaftes zugetragen hat. Bald ist Sobinin mit neuen Gästen zurückgekehrt. Unheil ahnend fragt er seine Braut: „Antonida, was ist geschehen?“
Wanja ist zu bewundern, denn durch Dunkelheit und Kälte erreicht er noch in der Nacht das Kloster, welches die Widerstandskämpfer beherbergt. Der Junge läutet die Glocke, doch niemand öffnet. Verzweifelt hämmert er gegen die Pforte, bis endlich jemand aufwacht. Dramatisch schildert er die Entführung von Sussanin. Mit seiner feurigen Rede gelingt es ihm, die Soldaten zu entflammen, um bei Sonnenaufgang dem bedrängten Pflegevater zur Hilfe zu eilen.
SZENENWECHSEL
Auf verschlungenen Pfaden hat Sussanin die Polen immer tiefer in den Wald hineingeführt. „Sie ahnen die Wahrheit“ sinniert er, und schließlich bleibt Iwan nichts anderes übrig, als seine Seelenqual zu offenbaren. Man ist wenig beeindruckt, verschiebt aber den Handlungsbedarf auf den kommenden Tag. Der Verzweifelte erwartet sehnlichst die Morgenröte, und dass seine Befreier kommen mögen, um ihn zu erlösen. Doch es besteht nur geringe Hoffnung, und insgeheim nimmt der Unglückliche Abschied von seiner Familie und von seinem Leben. Ein Schneesturm kommt auf, so dass an Schlaf nicht zu denken ist. Erneut stellen seine Bewacher ihn zur Rede und Iwan gesteht die beabsichtigte Täuschung. In blindem Zorn wird Iwan erschlagen. Die Landsleute kommen zu seiner Befreiung zu spät.
Ein prunkvolles Finale soll die erste russische Nationaloper beschließen. Kann es einen schöneren Hintergrund geben als den Kreml von Moskau? Die Glocken läuten und der Chor läuft zur Höchstform auf und kündet: „Heil dir, russisch Land!“
Der historische Iwan Sussanin opferte sein Leben tatsächlich für den Zaren Michail I., dem Begründer der Dynastie der Romanows. Bei Michail Glinka kommt der Zar im Handlungsgefüge aktiv nicht einmal vor. Glinka hatte auch nicht im Sinn, eine Huldigungsoper zu schreiben - ein bisschen aristokratisches Geplänkel wird im zweiten Akt den Polen zugewiesen. Zar Nikolaus war offenbar nicht einmal gekränkt, unbeachtet auf der Strecke liegen geblieben zu sein. In Wahrheit konnte er überhaupt froh sein, einen Russen zu haben, der in der Lage war, etwas Globales zu schaffen, um Italiener und Franzosen abzulösen. Bei der Premiere in St. Petersburg war der Zar zugegen und beschenkte den stürmisch Gefeierten mit einem kostbaren Ring im Wert von 4000 Rubel. Fortan durfte Glinka den Hofchor leiten, eine Position, die hoch dotiert war.
Böse adelige Zungen, die etwas anderes erwartet hatten, bezeichneten Glinkas Oper als „Kutschermusik“. Nicht ganz zu Unrecht, denn der Komponist war zuvor jahrelang auf Auslandsreise gewesen, hatte Rossini und Bellini erlebt und bewundert, eignete aber von deren Stil nichts an. Absolut „russisch“ wollte er komponieren und hatte als Substanz nur die heimatliche Folklore und sakrale Chormusik zur Verfügung. Bei Siegfried Dehn in Berlin hatte er Kompositionsunterricht genommen, so dass Glinka durchaus in der Lage war, den Rohstoff in eine Form gießen. In seiner ersten Oper blieb alles ein bisschen schlicht, einfach und holzschnittartig. Mit seiner folgenden Märchenoper „Ruslan und Ludmilla“ sollte sich das schlagartig ändern.
Michail Glinka war nicht der erste, der sich an den Stoff vom mutigen Leibeigenen heranmachte, sondern Catterino Cavos, allmächtiger musikalischer Direktor in St. Petersburg, hatte einen vergeblichen Versuch gestartet. Auch Wassilij Shukowski, dem Baron von Rosen - bei Hofe seines Zeichens Erzieher des Zarewitsch - die Verse schmiedete, war mit seiner eigenen Arbeit nicht zufrieden und machte Michail Glinka auf den Stoff aufmerksam. Bevor das Libretto stand, war sein Erstlingswerk in großen Teilen im Kopf schon platziert. Da es eine Herzensangelegenheit war, schaffte Glinka die Fertigstellung des Werkes in einem Jahr. Der Westen wurde aufmerksam, dass sich im fernen Russland Eigenständiges in Gang setzte, so dass man von der Gründung einer nationalen Schule sprechen konnte. Für „Iwan Sussanin“ öffneten sich die Pforten und es gab Aufführungen in Prag (1866), Mailand (1874), Hannover (1878), London (1887), Berlin (1888), Nizza (1890), Paris (1896) und Hamburg (1900). Diese Resonanz konnte der Komponist leider selbst nicht mehr erleben.
Der Untertitel „Ein Leben für den Zaren“ als Aushängeschild für alte Zarenherrlichkeit passte nicht mehr in die kommunistische Ära, „Ein Leben für Hammer und Sichel“ kam überhaupt nicht an. So besorgte Sergej Gorodetzkij den großen Hausputz, nannte die Oper „Iwan Sussanin“ und schuf die Version, die heute noch Gültigkeit hat und am Bolschoi gespielt wird. In der ursprünglichen Version war es der Zar, der sich im Kloster verborgen hielt. In der neuen Fassung wurde der jugendliche Monarch gegen den Widerstandskämpfer Kusmja Minin, der hier seine Leute sammelt, ausgewechselt. So dreht die Zeit das Fähnchen nach dem Winde.
Letzte Änderung am 18.6.2016
Beitrag von Engelbert Hellen