Anatevka
Entstehungszeit: | 1964 |
Uraufführung: | 22. September 1964 in New York |
Besetzung: | Soli und Orchester |
Art: | Musical nach der Erzählung „Tevje, der Milchmann“ von Scholem Aleichem |
Libretto: | Joseph Stein, Liedtexte von Sheldon Hamich |
Ort: | Ukraine |
Zeit: | erste Hälfte des 20. Jahrhunderts |
Tevje: | Milchmann |
Golde: | seine Frau |
Zeitel, Hodel, Chava, Shprintze, Bielke: | Tevjes Töchter |
Mottel: | Schneider |
Perchik: | ein revolutionärer Student |
Fedja: | junger Russe |
Jente: | Heiratsvermittlerin, hyperaktiv |
Shandel: | Tevjes Mutter |
Motschach: | Gastwirt |
Awram: | Buchhändler |
Weitere: | ein Rabbi und sein Sohn Mendel, der Bettler Nachum, Oma Zeitel, der Fleischer Lazar Wolf, Fruma Sarah (Lazars erste Frau als Phantom), ein russischer Wachtmeister und der Fiedler auf dem Dach |
Mit dem Fiedler auf dem Dach von Tevjes Haus wird der Besucher zu Beginn des Stücks als erstes konfrontiert. Der Musikant fiedelt nicht selbst, beileibe, der Geigenton löst sich aus dem Kammerensemble. Der junge Herr im schwarzen Frack und mit weißer Gesichtsmaske macht nur die Armbewegung – eine Fiedel nutzt er auch nicht, zusätzlich ist er noch stumm. Seine Figur ist einem Gemälde von Marc Chagall entlehnt. Immer präsent, wenn Aktion angesagt ist, sobald eine Situation sich zuspitzt, ist er zur Stelle. Er handelt nie und leidet mit. Eine der geheimnisvollsten Figuren des Musiktheaters überhaupt, ein entfernter Verwandter des Niklaus, der als Inkarnation der Muse, Offenbachs Hoffmann, in schweren Situationen treu zur Seite steht.
Ansonsten geht es recht profan zu. Das ukrainische Dorf Anatevka setzt sich aus Mitgliedern einer jüdischen Gemeinde zusammen. Tevje hat Charisma und ist hochgeachtet. Die althergebrachte Traditionen sucht man zu pflegen oder sich ihrer zu entledigen – ein Generationskonflikt. Es sind vor allem die drei ältesten Töchter, die ihren Vater zwar lieben, sich aber zu ihm in Opposition stellen. Besonders bei der Wahl des Ehepartners verhalten sie sich sehr konsequent. Die Bemühungen der Heiratsvermittlerin Jente umgehen sie und der Vater hat Mühe, die Eigenwilligkeiten seiner Töchter seinem Schöpfer begreiflich zu machen. Ihm treu zur Seite steht seine Frau Golde, die ins alttestamentarische Bild auch nicht so recht passen willen – dazu agiert sie viel zu souverän. Welche Leute im kleinen Dorf Anatevka wohnen, ist aus dem Personenverzeichnis zu ersehen. Zu den russischen Mitbewohnern herrscht ein friedliches Nebeneinander.
Wie schön wäre es, wenn Tevje einmal reich wäre. Der liebe Gott hat es nicht vorgesehen und so muss er sich mit seinen Einkünften aus der Milchwirtschaft zufriedengeben. Diese fließen immer dann besonders spärlich, wenn der Esel, der den Karren zieht, unpässlich ist. Die Situation könnte sich verbessern, wenn die Älteste sich entschließen könnte, den Fleischer Lazar Wolf zu heiraten, doch Zeitel hat ihr Herz bereits bei dem Schneider Mottel untergebracht. Tevje steht nun vor dem Problem, dem Lazar zu erklären, dass er die Tochter nicht bekommen wird, obwohl er bei ihm im Wort steht. Lazar kommt zur Hochzeit von Zeitel und Mottel, hat auch einen Korb mit fünf Hühnern als Geschenk dabei, konnte aber den Verlust der Milchmanntochter noch nicht wegstecken und macht seinem Unmut Luft. Golde war auch nicht einverstanden, doch eine simulierte Geistererscheinung, in der Lazars verstorbene Frau Fruma Sarah sich gegen eine neue Verbindung sperrt, macht sie schließlich gefügig. Immerhin, ein Gönner hat dem Bräutigam als Hochzeitsgeschenk eine neue Nähmaschine gestiftet.
Was ist mit der zweiten Tochter Hodel? Sie liebt den jungen Studenten Perchik. Seine Ideen zur Weltverbesserung sind revolutionär. Wie sagt sie es dem Papa? Vorgesehen zur ewig währenden Verbindung war eigentlich der Sohn des Rabbi. Mit Perchik möchte Hodel so glücklich werden, wie Zeitel es mit ihrem Schneider ist. Doch was tut Perchik? Er stößt die Hochzeitsgesellschaft vor den Kopf und tanzt mit einem Mitglied des anderen Geschlechts. Man fühlt sich animiert oder entrüstet sich - die Geisteshaltung entscheidet. Aber Zustände wie in Babylon wird es in Anatevka nicht geben. Die Obrigkeit erscheint, macht klar, wer das Sagen hat und produziert als Vorgeschmack auf schlimme Zeiten rüpelhaftes Verhalten.
Hodel verlobt sich heimlich mit Perchik. Da Tevje nichts anderes übrig bleibt, stimmt er der Verbindung zu. Perchik wurde wegen seiner revolutionären Haltung in die Verbannung geschickt. Hodel hält zu ihm, verlässt das Elternhaus und folgt ihm nach Sibirien. Die Trennung fällt Vater und Tochter gleichermaßen schwer.
Auch Chava schlägt aus der Art. Fedja bedrängt sie, dass sie dem Vater endlich von ihrer gegenseitigen Liebe erzählen soll. Tevje kann nicht immer nachgeben. Golde teilt ihm mit, dass Chava um Fedjas Willen die Familie verlassen hat. Der Kandidat hat einen anderen Glauben und eine völlig andere Weltanschauung. Tevje führt viele Zwiegespräch mit dem Lieben Gott. Ein vernünftiger Dialog will sich so recht nicht einstellen. Die meisten Fragen, die ihn quälen, muss Tevje sich aus dem Reichtum seiner Phantasie und der Unschuld seines Gemüts selbst beantworten. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Zur Freude des ganzen Dorfes haben Mottel und Zeitel Nachwuchs bekommen.
Die emsige Heiratsvermittlerin versucht auch die beiden jüngeren Töchter Shprintze und Bielke unter die Haube zu bringen und schleppt zwei Minderjährige an. O weh! Wer mit wem, will Golde wissen. Ach, das ist Jente völlig egal.
Das Unglück lässt sich nicht abwenden. Der russische Wachtmeister erscheint und gibt die formelle Information heraus, dass die jüdischen Bewohner das Dorf binnen drei Tagen zu räumen haben. Der Abschied ist traurig. Jeder hat andere Vorstellungen, wohin die Reise gehen soll. Der Fiedler verlässt Anatevka ebenfalls. Hat er ein Ziel?
Letzte Änderung am 5.10.2007
Beitrag von Engelbert Hellen